Den Frieden wahren

Als das Licht der Dunkelheit wich und die Kälte zur Ruhe zwang, wanderten die Wölfe in das unentdeckte Reich, vor dem sich die Menschen fürchteten. Ein gutes Jahr lag hinter ihnen. Viele Jungtiere hatten das Rudel reich gemacht. Sie waren nun stark, was die Jungen übermütig, andere arrogant und manche jedoch misstrauisch machte. Der alte Wolf blickte über die Ebene und suchte einen Platz, wo der Wind keinen Einfluss hatte. Er hob seine feine Nase und sog die Luft ein. Er fühlte den Wind, seine eisige Kraft, die schnell jeden Gegner schwächen konnte. Der weise Wolf drehte sich mit dem Wind und hob wieder leicht den Kopf.

Dort in einiger Entfernung fand er eine von Büschen umsäumte Senke, in der sich kaum ein Halm beugte. Er wollte schon lostraben, als eine Ahnung ihn warnte. Er hielt inne und versuchte ihr nachzuspüren. Der Alte konnte nicht mehr erkennen, welcher seiner feinen Sinne ihm diese geschenkt hatte, aber er war wachsam. Die Spannung des Leitwolfs übertrug sich auf das Rudel. Selbst die Jungen blieben wie erstarrt stehen. Da war es wieder. Es war ein feiner Ton, der umschlängelt wurde von einer unbekannten Witterung. Leicht süßlich. Wie Milch. Der Ton war hoch. Kläglich. Unterbrochen. Ein leises Wimmern. Ein Jungtier, schoss es dem Wolf durch den Kopf. Aber keines von ihnen. Kein ihm bekanntes Tier wimmerte so. Die alte Wölfin trat an seine Seite.

Auch sie hatte vernommen, was den Wolf warnte. „Ein Mensch?“, fragte sie. „Wo einer ist, sind auch andere“, erwiderte er. „Sie kommen nicht hierher“, brummte einer der Ältesten. „Sie KAMEN nicht hierher, muss es jetzt wohl heißen“, sagte ein anderer, der misstrauischste von allen. „Seid ruhig. Ich muss wissen, wie viele es sind, “ sagte der alte Wolf. Sie schwiegen und gemeinsam öffneten sie ihre Sinne. „Es ist nur einer. Das Kind. Es ist allein. Es stirbt“, sagte die Alte. „Gut“, sagte der Misstrauische. „Nein. Wahrscheinlich nicht. Es ist besser,den Frieden zu wahren“, raunte der Leitwolf. „Wie meinst Du das? Wir töten es nicht. Wir sind nicht schuld,“ fragte der Misstrauische. „Doch, wenn wir es sterben lassen, sind wir schuld an seinem Tod.“ Die alte Wölfin schaute den Leitwolf von der Seite an und wartete auf sein Zeichen. Er nickte unmerklich. Sie trabte los und nahm drei weitere Wölfinnen mit. Das Rudel folgte in einem sicheren Abstand – falls es doch eine Falle war. Das Kind lag in ein Bündel gewickelt am Rande der Senke. Die vier Wölfinnen gingen langsam und vorsichtig darauf zu. Es fror. Wärme konnten die Tiere ihm geben, Nahrung nicht.

Vorsichtig packte die alte Wölfin den kleinen Menschen an den Tüchern und trug es zum Rudel. „Was nun? Was tun wir mit dem kleinen Menschen?“, fragten die Ältesten. Der Leitwolf sprach: „Wir alle haben nicht viel Zeit. Der Jungmensch braucht Nahrung, die wir ihm nicht geben können. Die Kälte wird gefährlich für uns. Wir brauchen Windschutz. Die Wölfinnen alleine können wir nicht beauftragen, das Kind zur Menschensiedlung zu bringen. Das ist zu gefährlich. Wenn wir alle gehen, dann besteht die Gefahr, dass wir zu lange brauchen und auch zu sehr auffallen. Meine Entscheidung: …“

Doch dazu kam er nicht mehr. Ein Mann und eine Frau standen an der Senke. Das Mondlicht zeigte ihre ängstlichen Gesichter. Die alte Wölfin nahm das Bündel wieder auf und durchbrach mit ruhigem Trab den Ring des Rudels. Mit hoch erhobenem Kopf, das Kind tragend, lief sie ruhig auf die beiden Menschen zu. Die Spannung war greifbar. Angst war auf beiden Seiten. Der Mann wurde unruhig und hob eine Waffe, doch seine Frau flüsterte leise und legte ihm eine Hand auf den Arm. Die Waffe sank langsam herab. Es waren noch rund zehn Meter, die die Wölfin von den Menschen trennte. Sie senkte langsam den Kopf, legte das Kind vorsichtig auf Moos und tat mit gesenktem Kopf ein paar Schritte zurück, ohne sich umzudrehen. Wiederum bremste die Frau den Mann und ging stattdessen selbst auf das Kind und die alte Wölfin zu. Sie zeigte ihre Hände, die ohne Waffen waren. Sie kniete vor dem Kind, nahm es auf, drückte es an sich und lächelte glücklich. Die Frau erhob sich und schaute der alten Wölfin lange in die dunklen Augen. Sie verbeugte sich leicht und auch das Tier senkte den Kopf. Der Friede war gewahrt. Zumindest heute.