Bodenständigkeit

Die deutsche Sprache ist reich an Worten, die einer ausdrücklichen Defi nition unterliegen und somit zum Zwecke der Kommunikation herangezogen werden können. Missverständnisse gibt es trotzdem, deren Ursachen vielfältig sein können. Diese liegen im Sagen und Hören, im Meinen und Verstehen, aber auch im unterschiedlichen Sprachgebrauch und -verständnis. Um nur einige Beispiele zu nennen: In manchen Berufsbranchen werden Ausdrücke unterschiedlich verwendet. Die Jugendsprache hat zu allen Zeiten die Sprache weiterentwickelt und verändert den Sinn von Worten, indem sie sie banalisiert, forciert oder in andere Zusammenhänge schickt. Der Einfluss anderer Sprachen findet Eingang ins Deutsche und stellt Begriffe für Neues oder Anderes. Die Technik prahlt mit der Internationalisierung von Fachbegriffen. Sieht man bei der Betrachtung von Begrifflichkeiten von Schnelllebigkeit, Trend und sprachlichem Brancheninzest ab, so gibt es alltäglich gebräuchliche Wörter, die jeder kennt, aber deren Bedeutung offensichtlich so individuell auslegbar sind, dass man staunt.

Bodenständigkeit ist ein solcher Begriff, der viel Spielraum für eigene Interpretationen lässt. Wenn man nur kurz über dieses Wort nachdenkt, stellt man fest, dass es tendenziell positiv belegt ist. Aber nicht vollständig. Und schon geht es los. Ist ein bodenständiger Mensch eher traditionellkonservativ oder weltoffen-realistisch? Oder beides oder nichts zwingend davon? Können phantasievolle Menschen bodenständig sein? Häufig wird bodenständig mit verwurzelt gleichgesetzt. Heißt das, dass ein bodenständiger Mensch immer am gleichen Ort, in der gleichen Region gewohnt und gelebt haben muss? Oder kann ein mobiler Mensch, der aus beruflichen oder privaten Gründen bereits Umzugskartons packen musste, ebenfalls als bodenständig bezeichnet werden? Und wenn ja, was bedeutet dann verwurzelt? Ist jemand, der bodenständig ist, dem Fortschritt zugetan, offen für neue Ideen oder verhaftet im Gewohnten? Ist die tatsächliche Erdscholle ein Kriterium für die Geisteshaltung oder ist der Begriff übertragbar auf Menschen anderer Berufsorientierung? Und wie nennt man das Gegenteil von Bodenständigkeit? Wikipedia hilft in diesem Fall nicht weiter. Der Begriff existiert dort einfach nicht.

Wahrscheinlich ist die Definition zu kompliziert und umfangreich. Der Duden hingegen weist mit Synonymen wie erd- und heimatverbunden und grundständig auf. Auch zünftig und erdig sowie sesshaft und heimisch bietet er als Erklärung an. Das neudeutsche Wort gesettelt vom englischen settle down würde in diese Reihe passen. Das ist aber nicht befriedigend, wenn man davon ausgeht, dass einen bodenständigen Menschen mehr ausmacht als eine Geburtsurkunde, die nahe dem aktuellen Wohnsitz ausgestellt wurde. Sind Handwerker, Arbeiter und Landwirte bodenständig? Und bedeutet dies, dass kein Arzt, Rechtsanwalt oder Ingenieur je dieses Attribut erlangen kann? Sind es nicht eher Dinge wie Klarheit im Blick, Realitätsnähe und unkomplizierte Denkweisen auch in Fragen der Komplexität, die die Nähe zum Boden beweisen können. Denn schließlich heißt bodenständig auf dem Boden stehend. Das kann durchaus auch der Boden der Tatsachen sein. Geerdet statt verwurzelt.

Was bedeutet dann geerdet in einer Zeit der Flexibilität? Ruhe im Inneren eventuell. Sicherheit und Achtsamkeit. Vielleicht rückt man mit diesen Begriffen wieder dem ursprünglich gedachten Sinn ein Stück näher. Bodenständigkeit ist ein altes Wort mit hoher Aktualität, das auf dem Weg zu etwas Außergewöhnlichem ist, wenn man erst einmal begonnen hat, es zu erfassen.