Worte finden

Wenn eine Frau von Gewalt betroffen ist, dann dauert es im Durchschnitt sieben Jahre, bis sie es schafft, nach Hilfe zu suchen. Die Gründe dafür sind vielfältig. Scham spielt eine große Rolle. Vielleicht hat sie für das Unfassbare, dass ihr Gewalt angetan wird, selbst keine Worte. Sie will keine Fakten schaffen, indem sie benennt, was ihr geschieht. Nicht selten gibt sich die Frau die Schuld an der Situation. Sie habe ihren Mann provoziert, sich falsch verhalten. Der Mann beteuert Besserung, die niemals kommt. Sie hat Angst um sich und um ihre Kinder. Eine emotionale, psychische oder auch ökonomische Abhängigkeit hält sie gefangen.

Immer noch ist Gewalt in engen sozialen Beziehungen ein Thema, das für Nichtbetroffene sperrig ist und geradezu unvorstellbar in seiner Dimension. In den letzten Jahren ist jedoch die Bereitschaft gestiegen,  sich mit dem alltäglichen Problem vieler Menschen – und statistisch gesehen hat jede vierte Frau schon einmal Gewalt in engen sozialen Beziehungen oder Bindungen erlebt – auseinanderzusetzen. Gewalt, die von Männern ausgeht und Frauen und Kinder betrifft, nicht mehr zu akzeptieren, ist heute gesellschaftlich anerkannt. Das ist die eine Seite der Medaille. Die andere bedeutet jedoch, denjenigen zu helfen, die betroffen sind. Das kann nicht jeder in letzter Konsequenz. Dafür gibt es Fachleute, die professionell mit der Situation umzugehen wissen. Allerdings kann jeder dazu beitragen, dass eine Frau den Mut findet, Hilfe anzunehmen. Der erste Schritt ist, wirklich hinzusehen und hinzuhören, wenn die ersten Anzeichen in der Familie, im Bekanntenkreis oder unter Kollegen auftreten. Dann hilft man, indem man die Dinge benennt, die man wahrnimmt. Worte zu finden und sie auch auszusprechen – ohne die Frau zu bevormunden. Die Betroffenen fassen eher den Mut, sich zu outen, wenn sie erkennen, dass eine breite Öffentlichkeit nicht auf der Seite des Täters sondern des Opfers steht.

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Die Aktion Standpunkte, die in Neustadt an der Weinstraße im Spätjahr 2017 durchgeführt und in einer Vernissage am 14. November in der Winzinger Kirche ihre Auftaktveranstaltung für eine anschließende Tournee durch die Stadt erfuhr, verfolgte genau diesen Zweck. Zum einen soll von Gewalt betroffenen Frauen Mut gemacht werden, ihre Situation zu ändern und einen Weg aus der Gewalt zu finden. Zum anderen wurde eine Sensibilisierung für das Thema in der breiten Öffentlichkeit und eine Diskussion über Gewalt in engen sozialen Beziehungen in der Neustadter Gesellschaft angestoßen. Tatsächlich fanden sich knapp 90 Neustadterinnen und Neustadter zusammen, die an einem Fotoprojekt teilnahmen. Sie zeigten Gesicht und hielten ihren Standpunkt gegen Gewalt an Frauen und Kindern deutlich sichtbar in den Händen. Der Zuspruch war so hoch, dass die Aktion aus Gründen der Machbarkeit sogar gestoppt werden musste. Über eine Fortsetzung oder Weiterführung wird nachgedacht.

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Nun beginnt die Tournee der Fotos durch Neustadt. An verschiedenen Orten, Plätzen, Geschäften, Büros, Praxen, Kneipen und Schulen werden immer wieder einzelne oder mehrere Fotos zu sehen sein. Sie sollen das Thema in die Öffentlichkeit holen und durch die ständige Wiederholung eine Wiedererkennung und eine Zustimmung zur Hilfe und gegen Gewalt hervorrufen.

Zur Vernissage kamen so viele interessierte Menschen, dass nicht alle in der kleinen Winzinger Kirche einen Platz fanden. Die Besucher wurden belohnt durch eine überaus gelungene Darbietung. Das Programm sah eine Information über die Wahrnehmungsentwicklung des Themas in der Öffentlichkeit und der stetigen rechtlichen Verbesserung vor.

Es wurde gesprochen über die Auswirkungen von Gewalt auf Frauen und Kinder. Was benötigen sie wirklich und wie kann man helfen. Umrahmt wurden die Kurzvorträge von Alexandra Schlosser und Marai Pfirrmann, beide Mitarbeiterinnen des Neustadter Frauenhauses, durch beeindruckende musikalische Beiträge der Musikerinnen von Marina Kammerlochs Jugendphilharmonie Deutsche Weinstraße.

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Eine schöne Interpretation des Songs Mother von Christina Aguilera, was eine autobiographische Interpretation des Gewaltthemas beinhaltet, beeindruckte die Zuhörer sehr.

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Eine fulminante, sehr eindringliche Performance, die weit über das gesprochene Wort hinausging, zeigten die beiden Künstlerinnen von Les Kamerades.

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Sowohl Musik als auch die pantomimische Darbietung gaben den vielen Informationen, den Zahlen und Fakten zu einem schweren Thema noch einmal die Tiefe, dass sie auch wirklich im Bewusstsein und im Herzen der Menschen ankamen.