Raum und Zeit

Der blutrote Morgen streckte sich über das Land und dehnte die Zeit in Orange, Gold und tiefem Blau. Raum und Zeit glühten im Einklang, verweilten im Augenblick und konnten sich am eigenen Spektakel nicht sattsehen. Wie verzaubert schlangen sich die beiden umeinander und spielten mit ihren Talenten. Sie meinten sich im Wettbewerb und versuchten gar, sich zu übertrumpfen. Sie dehnten und streckten sich, sprangen gleichzeitig, verharrten in Stille, knirschten gefangen in Eiseskälte und rannten in der Unbändigkeit eines Frühlingsmorgens los. So ging Jahr um Jahr ins Land. Sie liebten und sie brauchten sich. Sie waren nichts ohne einander. Und doch suchten sie nach dem winzigen Vorsprung, der sie ein klein wenig in ihrer Bedeutung abhob. 
Und da passierte es. Es knackte kaum hörbar. Und doch ging ein feiner Riss durch die Dimension von Raum und Zeit, den zunächst niemand bemerkte.  Noch nicht einmal sie selbst. Sie drehten, sprangen, verweilten und rannten wie eh und je. Und weil sie sich so genau kannten, geschah dies im Einklang, in perfekter Harmonie, ohne Zögern, ohne Stocken. Plötzlich blieb ohne ersichtlichen Grund der Raum stehen und die Zeit eilte weiter. Die Raum-Zeit Allianz zerbrach. Der Welt stockte der Atem, während der Raum die entschwindende Zeit fassungslos zu halten suchte. Zurück konnte die Zeit nicht. Das konnte sie nie. Ihr Weg führte immer voran. Der Raum schien starr vor Entsetzen zu sein. Sie drifteten auseinander, unfähig sich zu nähern. Die Stille zerbarst, als beide ihre Kräfte erzwangen. Sie drehten und krümmten sich, sie bogen und sie streckten sich. Von Harmonie und Symmetrie fehlte in ihrer Panik jede Spur. Während sich die Zeit krümmte, drehte sich der Raum, und als sich der Raum streckte, bog sich die Zeit. So kam es, dass das Kontinuum von Gestern, Jetzt und Morgen und aller Zeit dazwischen vollends durcheinander geriet. Die Geschichte verlor an Substanz und Wahrheit, die Zukunft war heute und der Moment schien ungewiss. 
Die Menschen erschraken zutiefst, denn Geschichte war wichtig. Die Geschichte machte sie lebendig, reell und bildete den Boden für alles. Es war undenkbar, dass die Geschichte in einem heillosen Chaos versank. Ihre Geschichte, das, was war, gab Halt, Stabilität, war Ratgeber und kulturelle Klammer. Die Erinnerungen stimmten nicht mehr und wurden durch alle anderen noch mehr in Frage gestellt. Alles um sie herum verlor an Realität, rückte von der Stelle, die vorgesehen war, und fand sich andernorts in einem fremden Zeitzusammenhang wieder. 
Zeit und Raum entfernten sich weiter und weiter. Die Menschen waren gezwungen, zu handeln, um nicht den Boden zu verlieren. Sie erzählten sich, was sie wussten, und hofften, so den Zusammenhalt zu erreichen. Doch das gesprochene Wort geriet in den Strudel der Ungewissheit. Nur das geschriebene Wort war fixiert. Die Menschen lasen und lasen und lasen. Sie setzten die Vergangenheit aufs Neue zurecht. 
Zeit und Raum lauschten und verstanden. Sie fanden sich ein im Rhythmus des Vergangenen. Sie schwangen wieder im Gleichtakt, fanden einander auch auf die Distanz, die immer geringer und bedeutungsloser wurde, und zogen endlich den Kitt aus dem Wissen, dass sie nur gemeinsam bedeutend waren.