Der Zeitgeist-Teller

Ernährung ist eine Frage des Überlebens – und des Zeitgeistes. Darüber wurde schon viel gesagt und geschrieben. Und ja, auf dem Teller spiegelt sich sowohl der Status als auch die Attitude eines Menschen. Klare Aussagen werden getroffen mit der Art, wie man sich ernährt. Gesundheitsbewusstsein, Klima- und Umweltschutz, Tierschutz und nicht zuletzt auch Disziplin lassen sich am Essverhalten ablesen. Welche Bedeutung hat die Nahrungsaufnahme für das jeweilige Individuum, welche Ängste, welche Kompensationen, welche Vorstellungen von Sozialkontakt werden beim Essen wach. Das ist so unterschiedlich wie interessant zu betrachten.

Kürzlich habe ich alte Rezepthefte aussortiert, die sich in jahrelanger Sammelleistung bedrohlich im Regal vermehrt haben - natürlich nicht, ohne sie eines letzten prüfenden Blickes zu würdigen. Da war sie, die Geschichte des Essens, des Kochens und des Dekorierens – dokumentiert und in Zeitraffer. Vor 25 Jahren – ja, solange reichte mein Archiv zurück – wurde den Vegetariern kein Platz im Rezeptheft eingeräumt. Veganer gab es im Bewusstsein der Redaktionen noch gar nicht. Low Carb fand maximal bei der Brigitte Diät statt und war Thema in Diabetes Ratgebern. Der Begriff Superfood war noch nicht erfunden. Die Rezepte drehten sich um das tägliche Stück Fleisch, vielleicht noch Fisch. Raffiniert und zeitintensiv waren die Rezepte im Dossier Für Gäste. Man wollte zeigen, wozu man in der Lage war. Erst nach und nach fanden Zeitangaben für schnelle Rezepte Eingang in die Beschreibungen. Plötzlich wurde mehr darauf Rücksicht genommen, dass es berufstätige Frauen gab, die mehr als nur halbtags – oder heute würde man sagen Teilzeit - tätig waren. Dann kamen die Männer ins Spiel, die sich auch in der stylischen Küche aufhalten durften. Hobbyköche wurden bedient, nicht notwendigerweise Selbstversorger. Erst in letzter Zeit werden Rezepte für zwei Personen berechnet. Die Standardfamilie bestand lange Zeit aus vier Personen. Exotische Gerichte sollten bezeugen, wie weltgewandt man war. Hausmannskost driftete im Laufe der Jahre ins Aus. Schade eigentlich.

Heute stellt man fest, dass man regional, saisonal, umweltbewusst, natürlich weltoffen und frei von Ressentiments, ressourcenschonend und nachhaltig einkauft, kocht, isst, sich und seine Familie ernährt, dabei sich der alten Traditionen bewusst ist und diese auch neu zu interpretieren in der Lage ist.

Es wird immer komplizierter, einer Glaubensfrage gleich, die mit ruhigem Gewissen nach außen hin vehement und mit tiefer Überzeugung zu verteidigen ist.

Eigentlich wollte ich nur kochen und essen und dabei nicht gleich auf dem ganzen, verqueren, reichlich zähen Zeitgeist rumkauen.  

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