Unterm Strich zähl' ich!

Ein Hamsterrad ist keine Karriereleiter. Unterm Strich zähl` ich! Mehr Ich-Zeit! Ich mach mein Ding. Lebe dein Leben. Carpe diem.

Nach Prognosen der Weltgesundheitsorganisation werden bis zum Jahr 2020 Depressionen die zweithäufigste Erkrankung der Welt sein. Mehr als jeder dritte EU-Bürger leidet mindestens einmal im Jahr an einer psychischen oder neurologischen Störung, besagt eine Langzeitstudie der TU Dresden. Tatsächlich nimmt die Zahl der Deutschen, die an psychischen Erkrankungen leiden, seit Jahren dramatisch zu – allerdings wohl auch, weil diese Leiden heute weniger tabuisiert und daher öfter diagnostiziert werden als früher. Nach Muskel- und Skeletterkrankungen sind psychische Probleme heute schon der zweitwichtigste Grund für Krankmeldungen von Pflichtversicherten.

Auch 41 Prozent der Frühverrentungen gehen auf seelische Leiden zurück. Work-Life-Balance ist eines der Schlagworte, die sowohl bereits Erkrankten entgegen gereckt werden, als auch in der Prävention von Burnout- Problemen eine zunehmend wichtige Rolle spielen. Die moderne betriebliche Gesundheitsvorsorge beschäftigt sich nicht nur mit Rückenbeschwerden und Übergewicht, sondern eben auch mit psychischen Belastungen. Liegen die Gründe in der Arbeitsstruktur oder –belastung, so bestehen zumindest in einigen Betrieben Bestrebungen, diese Belastungen auszuräumen oder Strukturen zu verändern. Denn, dass ein Hamsterrad keine Karriereleiter ist, ist letztlich keine neue Erkenntnis.

Aus- und Ich-Zeiten sind fraglos sinnvolle Maßnahmen, zunehmend stärker werdenden Belastungen durch Beruf, Familie und Freizeit entgegenzutreten. Das können kleine Kurzurlaube sein, Sporteinheiten, Meditationen, Treffen mit Freunden, Wanderungen oder auch Kosmetiktermine, die schon deshalb Wunder bewirken, weil man entspannt einfach besser aussieht. Diese kleinen, bewusst erlebten Zeitinseln - alleine, mit Freunden oder der Familie - sind ratsam und notwendig.

Aber auch hier macht die Dosis das Gift. Kritisch wird es dann, wenn die häufig wiederholten Gegenmittel zum Stress, die mittlerweile gesellschaftlich akzeptiert sind und nun auch schon zum guten Ton gehören, zu egozentrischen Mantras werden, mit denen jeder noch so ich-bezogene Dickkopf durch die Wand will. Stress zu haben, ist ein Zeichen dafür, wichtig zu sein. Es ist nicht unüblich, rücksichtslos die Gemeinschaft stehen zu lassen, um das Bestmögliche für sich aus der Zeit und der Situation herauszuholen. Anstrengungen werden vermieden, die vonnöten wären, um einen gemeinsamen Erfolg oder ein positives Gruppenerlebnis – in Familie, Freundeskreis, Verein oder Ehrenamt – zu erzielen. Der Individualtrend steht der Gruppenzugehörigkeit dann entgegen, wenn der eigene Vorteil zweitrangig werden würde. Man kann die Ich-Menschen beobachten in vollen Zugabteilen, an Flughäfen, in Verkehrsschlangen, am Abendbüffet des 5-Sterne- Hotels, im trauten Familienkreis oder auf der Ebene des Managers, der sich ungeniert in Selbstbedienungsmanier am Erfolg aller bereichert.

Die Ich-Menschen erkennt man auch daran, wie gut sie zuhören können, wenn es mal nicht um sie geht, und wie tolerant sie sind, wenn die fremde Sprache direkt aus dem Fenster des Nachbarhauses wahrnehmbar ist. Individualismus wird in Deutschland zur Staatsreligion – allerdings in engen Grenzen. Wir haben uns auf einen gemeinsamen, gesellschaftlichen Nenner geeinigt: Ich bin wie alle, nur ganz anders und mach mein Ding. Denn unterm Strich zähl‘ ich.

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