Siezen

Als etwa in den 60er Jahren die Studenten begannen, die Altersgrenze für das Siezen großzügig nach hinten zu verschieben, traten sie eine wahrhafte Revolution für die Art und Weise der Anrede los. Bis dahin siezten sich schon junge Leute ab einem Alter von 17 Jahren, um sich gegenseitig zu beweisen, dass sie nun dem Erwachsenenalter angehören. Heute ist die Altersgrenze im Wesentlichen verschwunden. Was noch zu zählen scheint, ist der Altersunterschied der beiden Gesprächspartner, die sich für ein Du oder Sie entscheiden. Aus diesem Grund treten die meisten Irritationen auch bei Menschen in der Altersspanne zwischen 30 und 40 auf. Ihr Eigenbild ist häufig jünger als das Bild, das andere von ihnen haben. Werden sie gesiezt, fühlen sie sich alt. Neben der Frage des Alters existiert auch eine Unterscheidung privater und beruflicher Situationen oder Beziehungen, wenn es um die korrekte und – besser ausgedrückt – passende Anrede geht. 

Respekt, Status und Anerkennung waren und sind bis heute Motive der unterschiedlichen Anredeformen. Die Geschichte des Duzens und Siezens ist bereits sehr alt. Erst etwa 900 n.Chr. ging man dazu über, für Ranghöhere die Anrede Ihr einzuführen. Damit drückte man aus, dass diese Person so wichtig erschien, dass die Anrede als eine Person nicht ausreicht. Im 19. Jahrhundert setzte sich das Siezen durch, was wahrscheinlich als eine Kompromisslösung aus allen Formen entstand, da sich das Ihr für den Adel in der Bürgerschaft nicht länger durchsetzen ließ. Mit der Befreiung des Duzens aus der familiären Enge ist das gesellschaftliche Leben in Deutschland durchaus nicht einfacher geworden.

Denn neben der Höflichkeitsform addierte sich eine andere Aussage zur gewünschten und verwendeten Anredeform hinzu: das Lebensgefühl. Jung, zukunftsgerichtet, sportlich und aktiv – das soll das ewige Du vermitteln. Darüber hinaus ist die Gleichheit und Kastenlosigkeit ein Grund für die einheitliche Ansprache. Das ist schön, funktioniert aber nicht flächendeckend, weil in Deutschland – und nicht nur dort – dem gesellschaftlichen Status eben doch eine enorme Bedeutung zugeschrieben wird. Nähe, oder eben auch sein Gegenspieler, die Distanz, werden durch die vereinbarte Anredeform zugelassen oder nicht. Tatsächlich gestaltet sich die momentane Situation im Umgang mit der korrekten Anrede sehr kompliziert. Individuell muss ausgehandelt werden, wer wie wann von wem in welcher Situation angesprochen wird.

Neuerdings ist zu beobachten, dass die Rückkehr zum Siezen ausgerechnet von der jüngeren Generation zaghaft, aber doch bemerkbar angeschoben wird. Vielleicht ist der Wille nach Anerkennung und Respekt die Ursache für den Wunsch nach dem formellen Sie. Häufiger wünschen junge Männer die Sie-Anrede, so scheint es, denn bei ihnen ist die Autonomie-Frage eine drängendere und eventuell noch nicht gelöste als bei älteren Geschlechtsgenossen oder gleichaltrigen Frauen. Vielleicht liegt es auch daran, dass der gegenseitige Respekt beim Duzen im Zeitalter der Kommentarfunktion auf der Strecke geblieben ist. Ein gelegentliches Aushandeln der richtigen und für die Person passenden Anredeform macht Mühe. Jedoch ist es insgesamt zu begrüßen, wenn man sich mit seinem Gegenüber befasst.

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