Ein Saal voller Menschen

Der Saal voller Menschen war bereit. Aufgeregtes, wenngleich vornehmes Raunen, Schwatzen und Tuscheln füllten die geladene Atmosphäre. Warten war nicht ihre Sache. Sie waren gekommen, um ihn zu sehen. Den Mann, der die Medizin revolutionierte. Der Mann, dessen intensive Forschung und Beharrlichkeit zu unglaublichen Ergebnissen geführt hatten. Gegen jede Widerstände. Und dessen Geradlinigkeit ihn unbeirrt seinen Weg hatte gehen lassen. Stoisch und gleichzeitig rebellisch. Aufmüpfig erschien er seinen Wegbegleitern, geradezu arrogant und rücksichtslos. Doch der Erfolg gab ihm recht. Wie der Erfolg jedem recht gibt. Seine wegweisenden Forschungsergebnisse hatten seinen Namen auf einen Schlag berühmt
gemacht, obgleich er auch vorher zumindest in Fachkreisen kein Unbekannter gewesen war. Und nun war er auch noch wohlhabend. Sehr wohlhabend. Hinter vorgehaltener Hand tuschelte man, dass er sogar stinkreich war. Soviel wusste man im Saal zu berichten. Jeder ein bisschen mehr und keiner so genau. Niemand kannte ihn persönlich. Worum es sich bei seinen Forschungen exakt handelte, das wusste man nicht zu sagen. Ein neues Medikament und ein neuer Therapieansatz hatten die Behandlung von Krebspatienten völlig verändert. Das musste als Information reichen. Schließlich mag man sich auch nicht verbal in die Niederungen des
Menschlichen begeben, wenn es doch Schlagworte gab, die einen scheinbar wissend zeigten.

Eine halbe Stunde war bereits vergangen, in der die Sektbar gut ausgelastet war. Sattes Plop und feines Kling strukturierten das Raunen in einen gesellschaftlich anerkannten Rhythmus. Dann war es soweit: Die große Flügeltür an der Stirnseite des Saales wurde geöffnet. Ein Mann trat ein. Hinter ihm weitere Herren in Anzügen.
Alle trugen ernste Gesichter. Ein wenig steinern wirkten sie, als sie die Blicke der Menge auf sich wussten. Der Mann war nicht jung, nicht alt, nicht hübsch, nicht hässlich. Tiefblaue, intelligente Augen in einem leicht gebräunten Gesicht lagen unter markanten Augenbrauen. Das Kinn war trotzig nach vorne gereckt. Arme
und Rücken waren angespannt. Ein Kämpfer! Man konnte es sofort erkennen. Die Menge fraß ihn mit den Augen und suchte die Merkmale im Äußeren zu entdecken, die vorher so eingehend diskutiert worden waren. Die Damen schmolzen und rückten sich kokett zurecht. Die Männer zeigten sich jovial, freundlich und völlig gleichgesinnt. Der Saal nahm die Körpersprache des Wolfsrudels an und war bereit, ihren Anführer
zu akzeptieren. Den Erfolgreichen, den Kämpfer, den Starken! Es bedurfte keinerlei Worte, die Rollen waren verteilt. Die Meute folgte ihrem Leitwolf.


Dieser durchschritt mit geradem Rücken den Raum, die Menge teilte sich vor ihm wie einst das rote Meer. Mit festem Schritt ging er auf die gegenüberliegende Wand zu, öffnete dort die Tür - und verließ ohne Gruß den Saal. Seine auf Hochglanz polierten Schuhe hinterließen kaltes Parkett. Die Menge war verwirrt.


Ein leises Kichern erklang aus der Saalecke. Ein unscheinbarer Mann mit schütterem Haar und abgetragenem, grauen Anzug betrachtete mit blitzenden Augen amüsiert die sich streckende Meute. Niemand hatte ihn beachtet, niemand hatte ihn gar bemerkt. Fast bedauerte der Graue, dass er neben seiner Arbeit zur Krebstherapie nicht auch noch ein soziologisches Gutachten einreichen konnte.

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