Der Familientisch

Sara saß am großen Holztisch, der Familientisch, an dem man bequem mit zehn Personen sitzen kann. Vor ihr stand ein Kaffee mit viel Milchschaum. Die Tischplatte war zum Teil von einem Tischläufer bedeckt. Die farbenfrohen Muster der Decke passten zur Vase und dem Teelichthalter. Sara mochte die Farben auf dem dunklen Holz des Tisches. Der Tisch. Ihr Tisch. Ein alter Tisch mit Seele und Vergangenheit. Und Kratzern. Auch ein Fleck war auf der Platte, den sie einfach nicht mehr entfernen konnte, egal wie lange und mit welchen Mittelchen sie es probiert hatte. Jetzt stand dort die Vase, um den Fleck zu verdecken. Eigentlich war das Unsinn, denn jeder wusste von diesem Fleck und kannte auch die Geschichte, wie dieser entstanden ist. Oft lachten sie darüber. Dieser Tisch stand damals schon bei ihren Großeltern und wurde im Laufe seines Lebens dreimal aufgearbeitet. Andere Tischbeine hatten sie ihm auch gegönnt, damit er stabiler war und auch besser zu den restlichen Möbeln passte. Aber auch das spielte schon längst keine Rolle mehr.

Hier an diesem Tisch kamen sie immer zusammen. Zum Essen und Plaudern, zum Diskutieren und Schweigen. Hier wurde gelacht und geweint, gestritten und sich versöhnt. Der Tisch war schon immer die Unterlage für Pläne aller Art und gab Raum für Meinungen, Träume und Gedanken. Sara liebte diesen Tisch, weil er das Sinnbild für ihr gemeinsames Leben war.

Und jetzt saß sie dort an ihrem Tisch, ihrem Platz und trank einen Kaffee. Mit viel Schaum. Sie erinnerte sich an so viele Momente und Stunden, die sie gemeinsam an diesem Tisch verbracht hatten. Die guten Momente kamen sofort. Aber auch die weniger guten Momente hatten ihren Platz. Als ihr Vater mal mit der Faust auf den Tisch gehauen hatte. Da hatte ihre Mutter sich von ihrem Geld ein kleines Auto gekauft, ohne den Vater zu fragen. Das war damals ein echtes Drama, dachte Sara - heute noch kopfschüttelnd. Und doch wurde es an diesem Tisch ausdiskutiert. Der Vater hatte sich wieder beruhigt, als die Mutter ihm sein Lieblingsessen auf den Tisch stellte, dort wo noch kurz vorher die Faust gelandet war. Oder als man ihr gesagt hatte, dass ihre Schwester so schwer krank sei und es nicht schaffen würde. Da hatte sie hier gesessen und auf die Tischplatte gestarrt. Sehr lange. Sie konnte kaum aufstehen und hielt sich am Holz des Tisches fest.

Sara kamen Bilder von vielen gemeinsamen Geburtstagen, festlich geschmückter Tafel und unzähligen Stühlen um den Tisch herum in den Sinn. Sie hatte es geliebt, wenn kaum Platz und eben dann doch für alle in der Runde war. Das Lachen hatte sich ebenso in die Ritzen des Holzes gesetzt, wie es so manche Träne und auch mancher verschüttete Wein getan hatte. Die Spuren des Lachens waren geblieben und konnte man sogar fühlen, den Wein hatte sie wegwischen können. Aber die Tränen glitzerten manchmal. Sie gehörten eben auch dazu.

Sie hatte es geliebt, wenn die Kinder hier Hausaufgaben gemacht hatten. Viele Bücher, Zettel, Hefte und Stifte lagen über- und durcheinander und zum Schluss wurde alles zusammen auf die Seite geräumt, damit man doch essen konnte.

Aufgeräumt war es heute, die Kinder waren aus dem Haus. Eigentlich war der Tisch heute viel zu groß für sie und ihren Mann. Sie saßen immer am Eck des großen Tischs. Er hatte doch ernstlich nachgefragt, ob sie sich einen kleineren Tisch anschaffen sollten.

So ein Unsinn!