Was man sich so erzählt

Es war gegen Viertel nach Drei am Nordpol. Die Sterne warfen großzügig ihr spärliches Licht auf Conrad, der sich dick vermummt durch das vereiste Schneefeld schob. Es war windstill, was wirklich selten – genaugenommen eigentlich nie – vorkam. Conrad hielt sich völlig verborgen in seiner wattierten Jacke, seiner pelzumsäumten Kapuze und der dicken Schutzbrille. Aus den dicken Fäustlingen lugte eine Taschenlampe. Neugierig wanderten seine Augen hin und her. Er war auf der Suche. Auf der Suche nach einer Legende, einem Gerücht, einem alten Traum der Menschen. Vielleicht war es auch nur ein uraltes Märchen, was es an den Lagerfeuern und gemütlichen Küchentischen gab. Manchmal blitzte die Lampe auf, deren Schein in der klaren Luft nahezu unendlich schien und lediglich vom Horizont aufgehalten wurde. Außer dem Knirschen des vereisten Schnees unter den schweren Schneeschuhen gab es keinerlei Geräusch. Conrad blieb stehen. Er glaubte, ein Huschen wahrgenommen zu haben. Der Lichtkegel, der seiner Hand zu entspringen schien, wanderte schnell in einem engen Korridor hin und her. Tatsächlich durchschnitt für einen Augenblick ein Umriss die Unendlichkeit des Lichtes und war ebenso schnell wieder verschwunden. Wie ein fordernder Finger folgte der helle Schein dem Umriss. Hin und her, immer schneller wurden Conrads suchende Bewegungen. Aber nichts. Es war verschwunden. Conrad löschte die Lampe und blieb regungslos stehen. Er verließ sich auf seine Instinkte, denen er schon einmal vertraut hatte. „Suchst Du mich, Conrad?“, sagte eine tiefe Stimme genau neben dem vermummten Jungen.  Beinahe wäre er vor Schreck umgefallen. Sein Atem stockte und sein Herz raste, als ob es nach einem kurzen Stillstand alle verpassten Schläge nachzuholen galt. Er wandte sich der Stimme zu und wurde überrascht von einem Mann, der ihn aus den Tiefen seiner Kapuze mit unglaublich jungen Augen ansah. Conrad holte tief Luft und versuchte seine Stimme ruhig klingen zu lassen. „Ich weiß nicht, ob ich Dich suche. Denn ich weiß nicht, wer Du bist“, brachte er hervor und war ganz stolz auf seine Antwort. Der Mann lachte, was Conrad wieder verunsicherte. Und genau genommen entsprach sein Gegenüber so gar nicht dem, was er suchte. „Du willst wissen, ob ich es bin, der jedes Jahr im Dezember hier sein Unwesen treibt, kurz vor Monatsende abhebt und dann elf Monate ruht. Nicht wahr, das willst du wissen?!“ Seine Augen funkelten belustigt. „Ja“, gab Conrad trotzig zu. „Ja, das ist das, was man sich so erzählt. Und ich wollte sehen, ob ich den alten Kauz finden kann.“ Der Mann lachte schallend. Sein Lachen schien sämtlichen Raum einzunehmen. „Und“, fragte der Alte, als er sich wieder beruhigt hat, „hast Du ihn gefunden?“ „Ich weiß nicht. Das musst Du mir sagen.“ Wieder lachte er, schlug mit seiner behandschuhten Hand Conrad auf die Schulter und nickte. „Dann wollen wir mal sehen. Komm mit. Ich zeige Dir etwas.“ Und schon schritt der Alte voran, ohne sich noch einmal nach Conrad umzuschauen. Zögernd folgte der Junge dem schnell entschwindenden Rücken. Plötzlich war er nicht mehr zu sehen. Fort. Conrad schaute um sich, die Taschenlampe zu Hilfe nehmend. Wieder das Lachen des Mannes, dieses Mal aus weiter Ferne. „Geh weiter, Conrad, geh weiter. Vertrau mir.“ Verwirrt blickte er in alle Richtungen und schob sich langsam vorwärts. Dann wurde es wärmer, das Licht heller und gelblicher und er befand sich – einfach so – in einem Raum. Hohe Regale, die Nummern trugen, waren überfüllt mit kleinen Päckchen. Also doch, dachte Conrad. Er blieb staunend stehen. Warm war es hier.

Er befreite seine Hände aus den Fäustlingen, seinen Kopf aus der Kapuze. Die Halle war menschenleer, alles bewegte sich wie von Geisterhand auf Förderbändern, wurde zu den Regalen geführt und dort nach einem System, das Conrad nicht kannte, im wahrscheinlich richtigen Fach abgelegt. Ein Mann, schlank, mittelgroß, mit ergrautem, spärlichem Haar und glatten Wangen trat auf ihn zu. Er trug Jeans und einen dicken schwarzen Rollkragenpullover, eine Uhr mit Lederarmband am Handgelenk und Turnschuhe an den Füßen. „Bist Du der, den ich suche?“, fragte Conrad. Das alles passte so gar nicht zusammen. Der Mann lächelte ihn an. „Ja, ich glaube schon, auch wenn ich nicht so aussehe, wie Du es erwartet hast. Komm, ich führe Dich herum.“ Sie gingen durch die Halle bis ans Ende und schritten Regal nach Regal ab. Der Alte erklärte, was sich in den Päckchen befand, wie dies seit Jahren variierte, manches jedoch immer gleichblieb und worin die landestypischen Unterschiede bestanden. Am Ende der Halle traten sie in die nächste, ebenso große Halle, an der sich unzählige weitere anschlossen. Conrad fragte, wie er diese viele Arbeit schaffe, wann er begänne, die Päckchen zu füllen, warum er wisse, was in welche Päckchen hineinmüsse und woher die ganzen Sachen überhaupt kämen. Aber vor allen Dingen eines: Eltern kauften doch die Geschenke. „Ja, das stimmt. Aber immer ist ein ganz geheimer Wunsch im Herzen der Kinder, den ich zu erfüllen versuche. Manchmal flüstere ich den Eltern etwas ins Ohr, was sie sogar hin und wieder verstehen und beachten. Manchmal auch nicht. Und ist Dir noch nie aufgefallen, dass immer ein Päckchen unter dem Weihnachtsbaum liegt, von dem niemand weiß, wer es dorthin gelegt hat?“

Sie gingen noch eine Weile, doch dann meinte der Alte, die Zeit sei weit vorangeschritten und Conrad müsse nun nach Hause gehen. Er geleitete ihn zum Ausgang, zog ebenfalls seine Jacke an, schritt vor Conrad und forderte ihn auf, ihm einfach zu folgen. „Wieso hat Dich noch nie jemand vor mir gefunden?“, frage er. „Viele haben mich gefunden. Aber wieder vergessen.“ „Warum?“ „Sie wurden älter.“ Conrad stand genauso plötzlich wieder auf dem Schneefeld in der völligen Dunkelheit. Der Alte drehte sich noch einmal zu Conrad um, hob grüßend die Hand und verschwand. Der Junge fragte sich, ob er das Geschehene geträumt hatte oder ob der Alte Wirklichkeit gewesen war. „Wäre wenigstens sein Anorak rot gewesen…“

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