Die Sache mit der Angst

Der vergangene November hatte es in sich. Die Terrorakte in Paris und Mali, die Androhung von Gewalt in Hannover und Brüssel verunsicherten und verängstigten die Menschen. Nicht nur in den großen Städten wurde genau hingesehen, wenn ein Koffer alleine zurückblieb oder ein vermeintlicher Spaßvogel eine Drohung aussprach. Züge – auch in der Pfalz – wurden auf Sprengstoff kontrolliert, Hunde mit ausgebildeten Spürnasen durch S-Bahnen geschickt, Deidesheim teilweise abgeriegelt und so manches mehr, was nicht öffentlich werden sollte aus Angst vor weiteren Spaßvögeln mit Nachahmungstrieb. „Seien Sie aufmerksam, aber lassen Sie sich nicht in Ihrem Leben, in Ihrer Lebensfreude, in Ihren Gewohnheiten, Ihren Werten einschränken.“ So hieß es. Immer wieder. Gebetsmühlenartig. Aber: Wie genau soll das gehen? Die Berichte kamen ohne Unterbrechung. Mehr als erträglich liefen Nachrichten in Radio, Fernsehen und die Zeitungen waren voll von Neuigkeiten und Hintergründen, Spekulationen, Meinungen und Kommentaren.

Dann folgten jene unsäglichen Übergriffe in Köln und weiteren deutschen Städte am Silvesterabend. Der Münchner Bahnhof wurde wegen Terroralarm geräumt. Die Aufarbeitung der Vorkommnisse wird uns wohl noch einige Zeit beschäftigen. Ebenso erschüttert, verängstigt und erbost sind Deutsche wie jene Flüchtlinge, die sich aufgrund der maßlosen Respektlosigkeit gegenüber ihrem Gastland schämen und ihre eigene Reputation in Gefahr sehen. Sie befürchten, die Stimmung könne kippen.

Dicke Überschriften beeinfl ussen das Meinungsbild einer übersättigten Gesellschaft. Wer liest schon alles bis ins Kleinste? Und selbst wenn, wie werden die Berichte aufgenommen? Tatsächlich ist es doch so, dass die Nachrichtenkonsumenten die jeweiligen Medien nach ihrer eigenen Gesinnung auswählen und sogar in der Lage sind, neutrale Berichterstattung nur durch ihre Meinungsbrille zu betrachten und zu interpretieren. Und was genau ist die Wahrheit? Es gibt vieles, was wahr ist, und so manches, was nicht zutrifft. Und nie ist diese Wahrheit eine Wahrheit für alle, für jeden, für jegliche Momente, Begegnungen.

Niemals wird man das einzig Wahre fi nden können. Auch wenn Teilnehmer an Podiumsdiskussionen, Stammtischen oder Fernsehdebatten dies noch so vehement, teils lautstark beschreien möchten. Wie kann es gelingen, keine Angst zu verspüren und sein Leben tatsächlich ohne Unterbrechung weiterzuleben? Wenn wir ehrlich sind, es gelingt nicht. Ein mulmiges Gefühl bleibt. Und das ist vielleicht auch gar nicht so verkehrt, denn zunächst schützt es. Gerade die Kölner Übergriffe bewiesen die Machtlosigkeit von Frauen gegenüber sexualisierter Gewalt. Leider – und das ist das Fatale – werden nun alle Männer einem gewissen Generalverdacht ausgesetzt. Doch wir haben in der Krise die Chance, über das, wovon wir wirklich und im tiefsten Herzen überzeugt sind, nachzudenken. Unsere Werte. Was genau sind denn unsere Werte, die wir in dieser Zeit so gerne verteidigt sehen möchten?

Unterhält man sich mit Freunden, Familie, Bekannten, Kollegen und Geschäftspartnern, so stellt man in vielerlei Hinsicht eine Übereinstimmung in der Wahrnehmung unserer Werte fest. Aber manches, was in den Köpfen schwirrt, ist durchaus ganz anders als das, was das eigene Gedankengut hergibt. Die offene, tolerante und christliche Weltanschauung, von der wir so überzeugt sind, wird immer dann sehr stark in Frage gestellt, wenn sie näher an die eigene Haustür rückt und aktive Mitarbeit erfordert. Wenn man selbst nichts weiter zu tun hat, als auf seinen eigenen Vorteil bedacht zu sein, ist es leicht, Werte hochzuhalten, von denen man profitiert.

Aber wenn man andere daran teilhaben lassen soll, wird es für manche schwieriger, tolerant, offen und christlich zu bleiben. Oder überhaupt zu sein. Terror und sexuelle Übergriffe sind auf jeden Fall und in jeder Form zu missbilligen, niemals tolerierbar und auch mit großer Mühe keinesfalls erklärbar. Brandanschläge sind kein Zeichen von Besorgnis, keine Meinung, sondern ein Verbrechen. Wir verteidigen unsere Gesellschaft gegen Verbrechen. Unsere Werte können von außen nicht angetastet werden. Das können nur wir selbst. Es liegt an uns, uns auf unsere Werte zu besinnen. Und diese auch zu leben. Das ist die große Herausforderung dieser Zeit und langfristig unsere wirksamste Waffe.

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