Bereits ein Schritt vor die Tür erweitert den Horizont

Ich wohne in einem Dorf.
Ich kann also auf die Frage hin, welche Müllfraktion in der laufenden Woche vom Entsorgungsunternehmen
abgefahren wird, wie aus der Pistole geschossen antworten. Und stehe ich doch mal auf dem Schlauch, was vertrauenswürdigen Quellen zufolge jedem Mensch von Zeit zu Zeit widerfährt, dann hilft mir zur Not auch noch am Tag der Müll-Abfahrt sicher der Nachbar weiter. Selbiger steht mir übrigens auch dann mit Rat und Tat zur Seite, wenn ich mal die Tonne, natürlich aus Versehen, einen Tag länger stehen lasse wie es Gesetze und Verordnungen über die zeitliche Abfolge des An- und Abfahrens der müllfassenden Gebinde vorsehen.

Doch das macht mir nichts aus. Immerhin nimmt der Nachbar Notiz von mir. Und als guter Nachbar tue ich es
ihm gleich, ich notiere.Als erstes denke ich an diesen verschrobenen Verschwörungstheoretiker, den ich am Vortag am Ende einer umfassenden Netzrecherche zum Thema Duales System Deutschland von der Suchmaschine unter der Überschrift „Das könnte Sie auch interessieren“ angezeigt bekam. Ich wundere mich, war ich doch bisher der Information auf den Leim gegangen, dass solche Videos immer nur dann von der Suchmaschine vorgeschlagen werden, wenn man bereits vorher an einem vergleichbaren Videothema interessiert war.

Aber ehrlich, nach einem Video mit dem Titel Abfallabzocke habe ich nun wirklich nicht gesucht. Doch warum sollte die Suchmaschine irren? Das interessierte Dorfkind in mir gibt nach und drückt die Schaltfläche zum Abspielen. Fünf Minuten fahrlässig vergeudete Lebenszeit später frage ich mich, was genau ich da gerade gesehen habe. War das jetzt Kritik, die sich auf Fakten gründet, aber ohne Quellenangaben auskommt, oder war es vielleicht doch eher die filmische Dokumentation des Auslebens eines nicht näher zu fassenden Rauschzustandes? Ich denke an meinen Nachbarn – schon wieder.

Bei einem unserer letzten Zusammentreffen sagte er mir, dass seiner Meinung nach Verschwörungstheoretiker die Ursachen für ein Problem immer im Großen und Ganzen suchen würden, dabei aber das Unmittelbare, das direkt Greifbare aus dem Blick verlören. Ich erinnere mich daran, weil er sich wortreich und von Kopfschütteln begleitet mindestens fünf Minuten lang über den unter Verschwörungstheoretikern beliebten Vorwurf, Frau Bundeskanzlerin Merkelsei ein Echsenmensch, lustig machte. Okay, zugegeben, ich musste auch schmunzeln.

Das Video der angeblichen Abfallabzocke lässt mich nicht los. Was meinte mein Nachbar, als er davon sprach, dass seiner Meinung nach Verschwörungstheoretiker zu Lasten des Unmittelbaren die Ursachen für ein Problem immer im Großen und Ganzen suchen würden.

Ich denke an meine Mülltonne, die ist schließlich greifbar und nah. Aber ich glaube nicht, dass sich die Gedanken meines Nachbarn den ganzen Tag um das Thema Müll drehen, geschweige denn um MEINE Mülltonne im Speziellen. Und die Verbindung Verschwörungstheoretiker und Müll hat ja schlussendlich mein eigener Geist erdacht und nicht etwa der meines Nachbarn.

Obwohl, vielleicht bezog sich mein Nachbar ja genau auf das. Die Tonne! Oder vielmehr den Umstand, dass man über das Thema Müll immer wieder ins Gespräch kommt. Und vielleicht meinte er mit seiner Charakterstudie eines Verschwörungstheoretikers ja nur, dass bereits ein kleiner Plausch unter Nachbarn den Blick ins Unmittelbare, ins Nahe und direkt Greifbare lenkt. Ich weiß es nicht. Vielleicht ist der Plausch an der Tonne aber auch die kleinst-denkbare Keimzelle unserer Dorfgemeinschaft. Ja, vielleicht fängt sozialer
Zusammenhalt mit der Debatte um die richtige Sortierung des Hausmülls an. Denn wenn gemeinschaftlich
und gesittet gestritten wird, dann hat das doch immer zum Ergebnis, dass man als Gemeinschaft und nicht als Einzelkämpfer am umgebenden sozialen Raum feilt. Und wer die Feile an der eigenen Umgebung ansetzt, der wird über seine Beteiligung auch ein Teil der Gemeinschaft.

Meint das mein Nachbar? Keine Zeit. In einer halben Stunde beginnt die zweite Mitgliederversammlung des Dorfverschönerungsvereins im aktuellen Kalenderjahr, zu der ich geladen bin. Vielleicht weiß ja dort jemand, was mein Nachbar gemeint haben könnte.

Die Runde der Geladenen tagt bis um Mitternacht. Letzter Tagesordnungspunkt: Helfer zur Reinigung des Dorfes und der Flur gesucht. Ich denke an den Verschwörungstheoretiker und meinen Nachbarn, dann hebe ich meinen Arm.

Jens Wacker