Am Nachbartisch

Es war ein schöner Tag. Keine außergewöhnlichen Termine, kein Zeitdruck, nichts Besonderes. Die Mittagspause lud geradezu zu einem Besuch eines Café ein. In der Sonne war es schon recht warm. Eine Atmosphäre friedlicher Gelassenheit breitete sich in dem Straßencafé aus und Geplauder und Lachen füllten die warme Frühlingsluft.

Nur an einem Tisch herrschte eisiges Schweigen. Zwei Männer blickten mit großer Entschlossenheit aneinander vorbei. Der Jüngere von beiden rührte intensiv in seinem Kaffee, der andere saß mit verschränkten Armen breitbeinig auf seinem Stuhl. Ihre Blicke waren nach innen gerichtet und hingen ihren düsteren Gedanken nach. Elena saß wenige Meter entfernt und betrachtete die beiden Männer. Weil sie so gar nicht in das Gesamtbild des heiteren Frühlingstags passten, blieb ihre Aufmerksamkeit an ihnen hängen.

Wer waren sie und was war mit ihnen passiert? Offensichtlich hatten sie Ärger. Wenn sie jedoch miteinander Probleme hatten, warum redeten sie dannnicht? Oder warum stand nicht einer von beiden auf, wenn es nichts mehr zu sagen gab? Hatten sie beide gemeinsam etwas verbockt? Vielleicht beruflich? Sie waren gut gekleidet. Sakko, Hemd, Krawatte. Business-Outfit also. Verstohlen beobachtete Elena den Nebentisch. Allerdings gab es nicht viel zu beobachten, weil die Männer sich kaum rührten und kein Wort sagten. Ob sie tatsächlich Kollegen waren? Oder vielleicht Freunde? Vielleicht miteinander verwandt? Ähnlich sahen sie sich eigentlich nicht. Aber wer weiß?!

„Frauen sind da ganz anders“, dachte Elena. „Frauen reden miteinander. Auch wenn manches zerredet wird und daraus erst die wirklichen Probleme entstehen“, musste sie sich eingestehen. Aber immer noch besser als schmollend nebeneinander in der Sonne zu sitzen. Sie überlegte sich noch einige mögliche Szenarien und spielte sie im Geiste durch. Sie bildete sich etwas auf ihre Empathie und Menschenkenntnis ein. Wenn sie es sich recht überlegte, machte es ihr Spaß, sich in die Situation der beiden Männer hineinzudenken. Mittlerweile war sie sich sicher, dass die Herren einen Geschäftsabschluss verdaddelt hatten. Wahrscheinlich zu hoch gepokert, zu viel riskiert und aufs falsche Pferd gesetzt.

Plötzlich klingelte das Telefon des Jüngeren. Er warf einen Blick auf das Display, schloss die Augen und hob das Handy ans Ohr. „Ja?...Ja, am Apparat. … Gott sei Dank. Alles gut gelaufen? …Wann sollen wir kommen? … OK. Danke für den Anruf. Und danke für die gute Nachricht.“ Er schaute den älteren Mann an, der sich mittlerweile zu ihm gebeugt und genau zugehört hatte. Wortlos klopfte er dem Jüngeren auf die Schulter, nahm etwas Geld aus der Tasche und legte es auf den Tisch.

Ohne ein Wort standen beide auf und verließen immer noch schweigend den Marktplatz. Noch von weitem konnte man erkennen, dass sie eine Last getragen hatten. Erstaunt blickte Elena den Beiden hinterher. Sie beschloss, den Hobby-Psychologen in sich endgültig zu verabschieden.