Wenn die Natur erwacht

Wenn im Frühjahr die Herzen höher schlagen und ein sanfter Frühlingshauch die Köpfe verdrehen mag, dann liegt das steigende Interesse am anderen hauptsächlich an der Zunahme des Lichts. Fälschlicherweise wird angenommen, dass die Produktion der Sexualhormone im Frühling zunimmt. Nach Aussage des Endokrinologen Professor Dr. Helmut Schatz (Endokrinologie ist die Lehre von den Hormonen) ist es ein Ammenmärchen, dass im Frühling die meisten Kinder gezeugt werden. 

Das zeige ein Blick auf die Geburtenstatistik, die beweise, dass die höchste Geburtenrate regelmäßig Ende September vorliege. Daraus folgt, dass die Wintermonate Dezember und Januar in dieser Hinsicht viel interessanter seien, so Schatz. Ein zweites Geburtenmaximum liege in den Monaten Juni und Juli, was auf einen intensiven Spätsommer hindeute. 

Der Anstieg der Laune und des Wohlbefindens im Frühling steht in direktem Zusammenhang mit dem vermehrten Lichteinfluss. Wenn die Tage länger werden und das Sonnenlicht intensiver wird, produziert unser Körper weniger Melatonin, ein Hormon, das bei Dunkelheit in der Nacht ausgeschüttet wird und den Wach-Schlaf-Rhythmus bestimmt. Das hat zur Folge, dass man mit weniger Schlaf auskommt und sich frischer fühlt. Hinzu kommt eine Steigerung der Serotoninmenge im Blut. Das ist das so genannte Glückshormon, was Einfluss auf unsere Stimmung nimmt. 

Wenn die Natur erwacht, erwacht der Mensch – schließlich ist er Teil der Natur. Gut gelaunt, voller Energie und positiver optischer Reize fühlen sich viele Menschen zum Flirten bereit. Tatsächlich sind die natürlichen Gerüche in dieser Zeit in den Tiefen der Hirnregionen abgespeichert und geben das Signal zum Aufbruch in das neue Jahr voller Wärme und einem ausreichenden Nahrungsangebot. Menschen, die in Regionen ohne Jahreszeitenwechsel leben, wie beispielsweise am Äquator, kennen dieses Phänomen nicht und reagieren entsprechend gleichgültig auf die Kalendermonate März, April und Mai. 
Brunft- beziehungsweise Paarungszeiten der Tiere sind von dem Nahrungsangebot abhängig, das zu dem Zeitpunkt zu erwarten ist, zu dem die Jungtiere geboren werden. So liegt die Brunftzeit von Hirschen in den Herbstmonaten, Vögel brüten im Frühling und Pferde werden im Frühsommer rossig, um nur wenige Beispiele zu nennen. Auch hier spielen die Frühlingsmonate bei der Produktion der Sexualhormone keine Rolle. 

Tatsächlich geht man heute davon aus, dass der Jahreszeitenwechsel für die wirtschaftliche und technische Entwicklung der Europäer förderlich war. Eine Vorratshaltung für Herbst und Winter war notwendig und erforderte ganzjährige Planung und Arbeit.  Der Hausbau musste den klimatischen Bedingungen angepasst werden. Aus einer Hütte wurde ein Haus, was nicht nur zum Unterstellen von Gegenständen und zum überdachten Schlafen in Privatsphäre geschaffen war. Der Frühling legt durch Licht, weniger durch die Wärme, die Energie frei, derer es bedarf, um den Ackerbau voranzutreiben und das Überleben im Jahresverlauf zu sichern. Weitergehende Interpretationen der menschlichen Frühlingsgefühle sind romantischer Art und werden von Endokrinologen aus wissenschaftlicher Sicht nicht bestätigt.