Menschen in Krisensituationen

Tatsächlich lernt man Leute am besten in Krisensituationen kennen oder wenn es um den eigenen Vorteil geht. Wenn Menschen in ungewisse Situationen geraten, können sie zu Stressverhalten neigen, die sie selbstüberraschend finden – wenn sie später darüber nachdenken (würden). Aber zeigt es doch ihren Umgang mit anderen, mit sich und der Situation als solche. 
Man stelle sich vor: Der Urlaub ist zu Ende und der Flug nach Hause steht unmittelbar bevor. Check-in ist erledigt, die Kontrolle passiert, die Boardkarte ist zur Hand und das Gate in Blickweite. Nur das Flugzeug fehlt. Es kommt nicht, weil es nicht landen darf. Schlechtes Wetter macht eine gefahrlose Landung am kleinen Urlaubsflughafen unmöglich. Keine Landung, kein Flugzeug, kein Start. So einfach ist das. Der reibungslose Ablauf der Heimreise, der gewünscht, erwartet, vorausgesetzt und im Urlauberhirn fest eingeplant wurde, ist jäh gestoppt worden. Und schon geht es los. Nach ungläubigem Staunen, anschließenden Verneinen der Realität und einsetzendem Gemaule, folgt die Suche nach einem Schuldigen. Hier zeigen sich die Welterklärer, die sich und allen Umstehenden die Situation, in der sich nun alle in der Abflughalle befindlichen Reisenden gleichermaßen befinden, noch einmal im Detail darlegen müssen. Sie neigen zur detaillierten Analyse und Diagnose. 
Daneben gibt es diejenigen, die klar und deutlich beschreiben, warum die handelnden Personen vollkommen ungeeignet sind und selbstverständlich die Situation vollkommen anders organisiert werden müsste. Unsicherheit macht sich bei denjenigen breit, die sich in einem dringenden Wunsch nach neuen Informationen äußert, die am laufenden Band über den Flughafenlautsprecher tönen sollen. Natürlich nur für sie mit genauesten Angaben über die als nächstes zu vollziehenden Schritte. Andere schieben sich rücksichtslos in die erste Reihe, obgleich niemand weiß, wo diese sich befindet, weil die Richtung, in die es weitergeht, noch unbestimmt ist. Schlimm bestellt ist es um die armen Urlauber, die weder der Landessprache noch dem Englischen als Verkehrssprache mächtig sind. Sie sind auf Verdeih und Verderb den Übersetzern ausgeliefert, die dazu neigen, in die Übersetzung des Gesagten die eigenen Interpretationen einfließen zu lassen. 

Nach Stunden des Wartens, des Diskutierens und Spekulierens folgt Phase 2 des Krisendramas – das in Wirklichkeit ja keines ist: Die Zeit des Handelns. Eine Durchsage aus krächzendem Lautsprecher verkündet die Notlösung in der Unabänderlichkeit. Die festsitzenden Passagiere müssen sich bewegen. Wer? Ich zuerst! Wohin? Wann? Schlimm, schon wieder weiß man nicht genau. Jetzt gilt es, die Ellbogen auszupacken und den eigenen Vorteil zu sichern. Erster sein! Aber wo? Koffer holen, dabei Konkurrenz umstoßen. Hart bleiben, rennen um die besten Plätze. Schubs! Ellbogen! Knuff! Rein in den Bus ohne Rücksicht auf andere. Besonders Vertreter des männlichen Geschlechts – ich muss es leider sagen – sind rücksichtslose Vorteilsgeier. 

Schnippische Antworten, zurückgehaltene Informationen und hohe Stimmen bei verzerrter Mimik sind Zeichen unsouveränen Agierens in nicht geübten Situationen. Meckern bei eigentlich helfenden Personen gehört zum Standard. Schließlich hat man ja was anderes gebucht! Nach Stunden ist das Hotelzimmer bezogen (5 Sterne), das Abendessen genossen, eine Dusche genommen und endlich Ruhe eingekehrt. 

Am nächsten Morgen scheint die Sonne. Der Bus bringt die Gestrandeten, die am Frühstücksbüffet eine gesunde, hochwertige und wohlschmeckende Stärkung erhalten haben, zum Flughafen, wo die Flugzeuge schon darauf warten, die Reisenden nach Hause zu bringen. Sicher und schnell. Nichts ist wirklich passiert. Alles gut. 

Wie würden sich diese Menschen nur verhalten, wenn über Monate Unsicherheit herrschen würde, Informationen nicht nur spärlich sondern gar nicht erteilt würden, eigenes Handeln Voraussetzung wäre und eine Rückkehr in ein sicheres Zuhause ganz und gar unmöglich wäre? Ganz abgesehen von einem fehlenden 5-Sterne-Hotel als Notunterkunft!