Aufbruch ins Ungewisse

Der Begriff der Migration steht in der modernen Verwendung als Sammelbegriff für einen äußerst komplexen Vorgang, der für den Zwang oder das Streben, das Gewohnte gegen das Ungewisse tauschen zu müssen oder zu wollen, steht.

Die Gründe für die wohl fundamentalste aller Entscheidungen, die ein Mensch für sich treffen kann, sind so verschieden wie die Personen, die vor dieser Entscheidung stehen. Und dennoch lehrt die Geschichte, dass es gibt Parallelen, die aufzeigen, dass Migration im Allgemeinen bestimmten Mustern folgt. Sie finden in der Wahrung menschlicher Grundbedürfnisse ihren zeitlosen Ankerpunkt und werden schon deswegen bis heute von allen Menschen, egal welcher Herkunft, in gleichem Maße geteilt. 

Wanderungen von kleinen und großen Gruppen fanden in der Menschheitsgesichte zweifelsohne immer wieder statt. Das (End-)Resultat jener Wanderungen sind verbreitet Nationalstaaten, deren Bewohner sich im Laufe der Geschichte immer weniger Gründen ausgesetzt sahen, ihre Migrationsgeschichte fortzusetzen. Durch Sesshaftigkeit entstand Regelmäßigkeit. Aus Regelmäßigkeit erwuchs eine  Zukunftsperspektive.  Dass sich heute viele Menschen als mit ihrer Herkunft, mit ihrer Region oder mit ihrem Land verwurzelt sehen, ist streng genommen und zugebenermaßen reduziert dargestellt ein Resultat des Wegfalls von Migrationsgründen. Doch wie stellen sich die Gründe für Wanderungen im Einzelnen dar und haben sich diese im Laufe der Geschichte verändert?

Steffen Kröhnert vom Berlin-Institut für Bevölkerung und Entwicklung unterscheidet zwischen drei gegeneinander abgrenzbaren Bereichen, die ganz grundsätzlich Wanderungsentscheidungen auslösen können:

  • Die bloße physische Existenz der Menschen ist nicht mehr gesichert – Leib und Leben befinden sich in Gefahr. Dies betrifft insbesondere Wanderungsentscheidungen, die von Kriegs- und Krisengebieten (Flucht und Vertreibung), sowie Regionen mit einem hohen Maß an Umweltzerstörungen (Umweltmigration) betroffen sind.
  • Die institutionelle Struktur der Gesellschaft kann die materiellen, besonders die wirtschaftlichen Wünsche und Erwartungen nicht erfüllen – Die Versorgung mit den Dingen des täglichen Bedarf ist nicht oder nur noch eingeschränkt möglich. Dies betrifft insbesondere schwach entwickelte Gebiete und wird gemeinhin als Wirtschaftsmigration bezeichnet.
  • Die Lebensvorstellungen können unter dem herrschenden politisch-ideologischen System nicht verwirklicht werden – Eine freie Entfaltung des Individuums ist nicht möglich. Die trifft auf die Formen von Migration zu, die ihren Anlass in religiöser Diskriminierung oder politischer Verfolgung sehen. Abgemildert kann auch die mangelnde Identifikation mit den Werten der Gesellschaft des Quelllandes ein Grund zur Migration sein.

Trotz der klaren Trennung der Migrationsgründe in Bereiche sind die tatsächlichen Gründe, die dazu führen, dass Migration in der Realität stattfindet, meist nicht nur einem Bereich zuzuordnen, sondern stellen eine Mischung dar. Grundsätzlich nehmen Wanderungsentscheidungen laut dem Berlin-Institut für Bevölkerung und Entwicklung „(…) immer auf zwei Gesellschaften Bezug (…), die Abwanderungs- und die (…) Zuwanderungsregion (…). Durch das ins Verhältnis setzen beider Räume kann ein Erklärungsmodell für Migration entwickelt werden. „Dabei wird davon ausgegangen, dass das Zusammenwirken von negativen, abstoßenden Faktoren einer Region beziehungsweise Gesellschaft (Push-Faktoren) im Zusammenwirken mit positiven, anziehenden Faktoren (Pull-Faktoren) (…) Migrationen auslösen und ihr eine Richtung geben.“

Die Typisierung von verschiedenen Arten von Migration stößt häufig auf Kritik und wird verbreitet kontrovers diskutiert. Und nicht selten finden politische Intentionen ihren Eintrag in die Begriffsbildung und treten an Stelle der wissenschaftlich-neutralen Herangehensweise. Das Berlin-Institut für Bevölkerung und Entwicklung nennt aus diesem Grund drei weitere Aspekte von Migration, die eine genauere Differenzierung der Wanderungsentscheidungen möglich machen, nämlich zeitliche, räumliche und kausale Kriterien. Eine Kurzvorstellung:

Die zeitlichen Kriterien beschäftigen sich mit Dauer und zeitlichem Verlauf von Wanderungen

Die kausalen Faktoren beschreiben die Wanderungsgründe. Diese Typisierung ist besonders schwierig, da Wanderungsgründe häufig vielschichtig und zudem kontrovers diskutierte Gegenstände politischer, juristischer oder moralischer Urteile sind. Umstritten ist beispielsweise die Unterscheidung in freiwillige und erzwungene Migration (Flucht, Vertreibung). Während mit freiwilliger Migration die Vorstellung einer freien, individuellen Migrationsentscheidung verbunden ist, impliziert Zwangsmigration die Vertreibung von Menschen mit Gewalt oder durch Angst vor Gewalt. Ob und in welchem Maße Migrationsentscheidungen jedoch freiwillig oder erzwungen sind, ist in vielen Fällen eine normative Frage und nicht eindeutig abgrenzbar.

Die räumlichen Kriterien zeigen die Analyse von Herkunfts- und Zielregionen der Migration auf. Unter räumlichen Kriterien werden Migrationen in Außenwanderungen und Binnenwanderungen unterteilt.

Weitere räumliche Unterscheidungen lassen sich nach Art von Herkunfts- und Zielregionen treffen: So spielen laut Berlin-Institut „für Bevölkerung und Entwicklung Land-Stadt-Wanderungen in Entwicklungsländern eine erhebliche Rolle. Demgegenüber sind in Industrieländern Stadt-Stadt, aber auch Stadt-Umland-Wanderungen, der Wegzug aus ökologisch belasteten Kernregionen in die ländliche Umgebung von Großstädten, wichtige Teile der Binnenmigration.“ Gleichzeitig warnt das Institut davor, dass die verkürzte Form der Beschreibung von Veränderungen im Migrationsverhalten nur eine vereinfachte Sicht bietet. Insbesondere sei festzustellen, dass „das Modell politische Faktoren, aber auch spezifische Situationen in Entwicklungsländern nicht berücksichtigt.“

Bleibt die Frage, ob sich die Migrationsgründe im Laufe der Geschichte geändert haben. Ein greifbares Beispiel muss herangezogen werden. Warum in die Ferne schweifen? Wenn sich eine Region mit Migration auskennt, dann die Pfalz.

„Die Pfälzer haben nie einen besonderen Stamm gebildet, auch nicht, als es noch eine Kurpfalz gab.“ beschreibt der deutsche Historiker und Volkskundler Albert Becker in seinem Sachkundebuch Pfälzer Volkskunde aus dem Jahr 1925. Laut Becker lässt insbesondere das Studium der Pfälzer Familienanthropologie erkennen, dass die Pfalz ein typisches Durchzugsland ist. Man habe, so Becker weiter, schon viel von der Auswanderungslust der Pfälzer geschrieben, dürfe aber dabei nicht die Einwanderung übersehen, die nach seiner Ansicht gerade in der Gestaltung des pfälzischen Volkstums von größter Bedeutung sei. In Zeiten religiöser und politischer Not folgten viele dem an sie ergangenen Ruf und die freilich immer gern aufgesuchten Pfälzer Landstriche wurden nun das Ziel stets neuer Wanderer.

Einen großen Einschnitt stellte wie in vielen anderen Regionen der heutigen Bundesrepublik auch die Völkerwanderung dar, die um das Jahr 500 n.Chr. wandernde Germanen eben auch in die bis dahin überwiegend keltisch-römische Pfalz führte. Hinzu kamen im 16. und 17. Jahrhundert Scharen flüchtiger Protestanten und zahlreiche Schweizer und Tiroler nach dem Dreißigjährigen Krieg. Dabei, so die volkskundliche Aufarbeitung, zogen auch aus allen deutschen Landen Menschen an die Region am Rhein; „die Wundt aus Steiermark, die Goßler und Pauli aus Deutschböhmen, die Schultz aus Pommern, die Seekatz vom Westerwald, die Petersen aus Holstein, die Buhl und Bassermann aus Baden, die Deinhard aus Koblenz, um nur einige Namen zu nennen; aber auch Franzosen und Italiener ließen sich in der gastlichen Pfalz nieder und deutschten vielfach ihre Familiennamen ein. Viele namhafte Pfälzer führen ihre Herkunft in die Schweiz zurück, „von wo ihre Stammväter um die Wende des 17. und 18. Jahrhunderts einwanderten, voran die sparsamen, fleißigen mennonitischen Landwirte.“

Migration, das wird am Beispiel der Pfalz deutlich, findet in Wellen statt und ist meist Ergebnis eines lang anhaltenden Prozesses. So war die so genannte Massenmigration im Laufe unserer Geschichte nie auf ein Kurzzeitphänomen zurückzuführen, sondern war vielmehr stets der Endpunkt einer längeren Entwicklung. Die Ursachen für Migration waren dabei stets in den großen politischen und gesellschaftlichen Veränderungen der damaligen Zeit verankert – genauso wie heute.

 

Jens Wacker

Quellen:

Pfälzer Volkskunde von Albert Becker, 1925, Kurt Schroeder Verlag
Handbuch für Demografie, Steffen Kröhnert, 2007, Berlin-Institut für Bevölkerung und Entwicklung

 

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