Gelassener und weniger gestresst durch Achtsamkeit

Haben Sie schon einmal etwas von Achtsamkeit gehört? Wenn ja, dann wäre es zumindest möglich, dass Sie als Führungskraft bei einem der großen deutschen Aktienunternehmen arbeiten. Dort nämlich ist der weltweite Trend der Achtsamkeit bereits vor geraumer Zeit angekommen und wird auf verschiedenste Art und Weise in den Arbeitsalltag integriert. Stark verkürzt geht es bei Achtsamkeit darum, gelassener zu werden. Und Gelassenheit ist ein wichtiger Faktor der Produktivität eines Unternehmens. Maßnahmen, die Stress entgegenwirken, haben zudem positive Effekte auf das Betriebsklima und können neben der Arbeit auch im privaten Raum äußerst dienlich sein.

Das Konzept der Achtsamkeit entstammt ursprünglich dem Buddhismus und wird als Grundhaltung jeglicher Form von Meditation verstanden. Wenngleich der Ursprung in der Meditation liegt, kann Achtsamkeit aber auch ohne Meditation hergestellt werden, zum Beispiel durch bestimmte Übungen aus der Achtsamkeitspraxis. Eine Übung trägt zum Beispiel den Namen body scan und hat zum Inhalt, verschiedene Stellen des eigenen Körpers wahrzunehmen, ohne gleichzeitig eine Bewertung des Wahrgenommenen vorzunehmen.

Die am weitesten verbreitete Methode, die das Erlernen von Achtsamkeit möglich macht, hört auf den Namen Achtsamkeitsbasierte Stressreduktion (engl. Mindfulness-Based Stress Reduction - MBSR). Die in den 1970er Jahren vom US-amerikanischen Molekularbiologen Jon Kabat-Zinn entwickelte Methode wurde anfänglich fast ausschließlich im klinischen Umfeld zur Anwendung gebracht, um Depressionen und Angststörungen zu behandeln. Ziel der Methode ist eine verbesserte Stressbewältigung durch die gezielte Lenkung der eigenen Aufmerksamkeit. Viele Übungen, die den Kern der MBSR-Methode bilden, entstammen körpertherapeutischen und körperpsychologischen Techniken wie Yoga (Asana), Sitzmeditation (Zazen), Gehmeditation (Kinhin) und Atemübungen. Der Baukasten an verschiedenen Techniken erfüllt in seiner Summe den Zweck, die Wahrnehmung des Hier und Jetzt in den Vordergrund zu stellen. Dabei soll die Umgebung ausschließlich ohne Zorn und Eifer wahrgenommen werden – völlig neutral, aber nichts desto trotz bewusst.

Wer nun glaubt, Achtsamkeit sei nichts anderes als ein Synonym für Konzentration, der sollte den folgenden Gedanken beachten. Konzentriert man sich, dann lenkt man den Fokus der eigenen Betrachtung bewusst auf ein bestimmtes Objekt oder noch allgemeiner einen bestimmten Bereich des Sichtfeldes. Achtsamkeit hingegen löst sich von dem Detailblick und setzt voraus, dass sich der Mensch offen mit seiner Umgebung auseinandersetzt, indem er diese wertfrei und umfassend erfasst.

Kabat-Zinn, der Schöpfer der MBSR-Methode, beschreibt in seinem Buch Im Alltag Ruhe finden von 1994 Achtsamkeit in Abgrenzung zu Konzentration wie folgt: „(…) so intensiv und befriedigend es auch sein mag, sich in der Konzentration zu üben, bleibt das Ergebnis doch unvollständig, wenn sie nicht durch die Übung der Achtsamkeit ergänzt und vertieft wird. Für sich allein ähnelt sie (die Konzentration) einem Sich-Zurückziehen aus der Welt. Ihre charakteristische Energie ist eher verschlossen als offen, eher versunken als zugänglich, eher tranceartig als hellwach. Was diesem Zustand fehlt, ist die Energie der Neugier, des Wissensdrangs, der Offenheit, der Aufgeschlossenheit, des Engagements für das gesamte Spektrum menschlicher Erfahrung. Dies ist die Domäne der Achtsamkeitspraxis. (…)“.

In der jüngeren Vergangenheit hat sich die Wissenschaft mithilfe von Studien mit der Wirksamkeit von Achtsamkeitsmethoden auseinandergesetzt. Das Resultat: drei Viertel aller Studien erkennen die positive Wirkung von Achtsamkeitsmethoden an. Doch ist deshalb eine verstärkte Achtsamkeit automatisch und für jeden ein Allheilmittel in Sachen Stressabbau und -vorbeugung?

Nun, achtsam ist bereits jeder, der bereit ist, den Alltag aus einer anderen Perspektive zu betrachten oder eingefahrene Strukturen hinter sich zu lassen. Wie? Einfach mal eigene Gewohnheiten ignorieren. Musik hören, die man sonst nicht hören würde, oder nicht den gleichen Weg wie immer gehen, sondern auch mal vermeintliche Umwege in Kauf nehmen. Achtsamkeit durch Abwechslung, durch das Abweichen von der Routine, kann jeder im Alltag austesten. Und damit kann auch jeder selbst den Beweis antreten, ob bereits diese sehr einfachen Methoden dabei helfen, weniger gestresst durch den Tag zu hetzen.

Weitere Instrumente im Umgang mit der Thematik Achtsamkeit befinden sich zwischenzeitlich auch im Angebotsbuch der Krankenkassen. Ein Beispiel hierfür ist die Digital-Kampagne der AOK mit dem Namen Zeit für mich!. Laut AOK sind psychische Erkrankungen in Deutschland eine der häufigsten Ursachen für lange Fehlzeiten im Bereich Arbeit. Der AOK-Fehlzeitenreport aus dem Jahr 2017 zeigt auf, dass Krankschreibungen aufgrund psychischer Probleme in den vergangenen zehn Jahren um 79,3 Prozent angestiegen sind. Einen Hauptgrund dafür sehen Experten im übermäßigen Stress und digitaler Dauerpräsenz, die auch viele Volkskrankheiten wie Schlafstörungen, Rückenschmerzen, Herz-Kreislauf-Probleme und Übergewicht nach sich zögen.

Das Thema Achtsamkeit wird entgegen des meist positiv kommentierten Trends auch kritisch betrachtet. Der Psychologe Thomas Joiner, Professor für Psychologie an der Florida State University, beschreibt Achtsamkeit, genauer den Hype um das Thema, in einem Interview, das kürzlich auf Spektrum.de erschienen ist. Joiner zum aktuellen Achtsamkeits-Hype: „(…) Natürlich hat Achtsamkeit in ihrer ursprünglichen Form eine Menge für sich. Daraus ist inzwischen aber eine regelrechte Industrie geworden – man findet Achtsamkeitsangebote, wo man nur hinsieht: Achtsamkeit für Autofahrer, Achtsamkeit für Schwangere, achtsam kochen, achtsam kommunizieren, achtsam gärtnern … Das hat mit der Sache selbst oft nichts mehr zu tun. (…)Es geht dabei nicht um das eigene Ego, nicht um ständige Beschäftigung mit sich selbst und die Konzentration auf das eigene Denken und Fühlen. Das Gegenteil ist der Fall. (…)“.

Wer sich schnelle Ergebnisse von Achtsamkeitstrainings erhofft, der könnte laut Thomas Joiner enttäuscht werden: „(…) Achtsamkeit ist nichts, was man aus dem Stegreif beherrscht, es bedarf vielmehr einer genauen Anleitung und längerer Übung. (…)“. Im Falle von psychischen Erkrankungen, wie beispielsweise einer schweren Depression, könne das Anraten, sich mit den eigenen Gedanken zu beschäftigen, auch die Gefahr mit sich bringen, dass sich Erkrankungssymptome verschlimmern. Aus diesem Grund müsse man sich sehr genau mit den Chancen und Grenzen eines Achtsamkeitstrainings auseinandersetzen.

Klar ist, Achtsamkeit ist kein antrainierbarer Automatismus. Achtsam zu werden und auch zu bleiben erfordert viel Übung und ein beständiges am Ball bleiben. Der Weg ist das Ziel. Wem das alles zu viel ist, der kann aber auch auf altbewährte Stresskiller zurückgreifen. Garantiert kostenneutral, mit gesteigerter Erfolgsaussicht und jederzeit zu empfehlen sind zum Beispiel Spaziergänge über Wald und Wiese oder der Genuss eines Buches an einem störgeräuscharmen Ort der Wahl.

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