Der Rollkoffer

Der Wecker klingelte gewöhnlich um sieben Uhr. Doch dann war sie immer schon wach. Seit drei Wochen ratterte jeden Morgen um halb sieben ein Rollkoffer über das Altstadtpflaster an ihrem Schlafzimmerfenster vorbei. Gezogen wurde dieser Rollkoffer von einem Mann, der es eilig hatte und mit Lederschuhen und harten Absätzen wahrscheinlich zum Bahnhof hastete. Gesehen hatte sie ihn noch nie. Aber sie schloss es aus den Geräuschen, die immer gleich waren. Sie stellte ihn sich vor: Ein Mann zwischen 30 und 40 Jahren, gut gekleidet, wahrscheinlich mit Jeans und Sakko, kurze Haare, schlank. Als sie ihn die ersten Male hörte und von der Penetranz der Plastikräder geweckt wurde, war sie zunächst erschrocken, dann zunehmend genervt und jetzt tendierte sie Richtung Neugier. Wer war dieser Mann, der an ihrer Wohnung vorbei hastete. Sie überlegte sich Geschichten, wer er sein könnte und warum er stets in Eile war. Sie war überzeugt, dass er einen wichtigen Beruf hatte. Vielleicht ein Entwickler, ein Mediziner – allerdings ein Spezialist – oder ein Professor. Nein, dafür war er in ihrer Vorstellung zu jung. Oder vielleicht im Management tätig? Aber warum fuhr er dann nicht mit dem Auto? Solche wichtigen Menschen nahmen doch nicht die Bahn. Irgendwann in ihre Träume hinein klingelte der Wecker und ihr eigenes Leben begann.

Die Zeit verging, die Wochen verstrichen. Jeden Morgen rollte der Koffer am Haus entlang, gezogen von einem Menschen mit harten, lauten Absätzen. Nie schaute sie aus dem Fenster, weil sie sich quasi zum Wachwerden gerne in ihren Tagträumen verlor. Sie stellte sich vor, wie sie ihm zufällig begegnete und ihn sofort erkannte. Sie würde gerne mehr über ihn erfahren. Natürlich war er in ihren Träumen sehr charmant, intelligent und ein wenig peinlich berührt, dass er sie jeden Morgen unabsichtlich weckte. Das war selbstverständlich kein Problem, da sein Job so überaus wichtig war. Manchmal dachte sie, dass sie völligen Kitsch träumte, lachte über sich selbst – und träumte am nächsten Tag an derselben Stelle einfach weiter.

Doch eines Morgens klingelte der Wecker, ohne dass sie vorher durch die Absätze geweckt worden war. Sie wunderte sich, glaubte aber daran, ihn einfach verpasst zu haben. Aber auch die kommenden Tage blieben ohne Rollkoffergeräusche. „Urlaub“, dachte sie. Der Mann hat bestimmt Urlaub. Der Gedanke beruhigte sie. Jeder hat schließlich einmal Urlaub. Drei Wochen vergingen – kein Rollkoffer und keine Absätze. Vielleicht ist er krank? Hoffentlich nichts Ernstes, sagte sie sich. Nun bedauerte sie schon, dass sie niemals aus dem Fenster gesehen hatte. Die Wochen vergingen, ohne dass er zurückkehrte. Wahrscheinlich hatte er eine andere Stelle oder musste zu einem anderen Zeitpunkt die Bahn nehmen. Vielleicht hatte man ihm für eine gewisse Zeit den Führerschein abgenommen, den er nun wieder erhalten hatte und somit nicht mehr auf die Bahn angewiesen war. „Wer weiß“, dachte sie und war ein wenig traurig.

Nach nunmehr vier Monaten wurde sie noch vor dem Weckerklingeln aus dem Schlaf gerissen. Absätze und Rollkoffer. Sofort war sie hellwach und stürzte aus dem Bett. Sie riss das Fenster auf und blickte auf die Straße unterhalb ihres Schlafzimmerfensters und sah:

Eine sehr junge Frau mit roten Haaren, die locker zu einem Pferdeschwanz gebunden waren. An den Füßen trug sie Cowboystiefel und ihre Gestalt war in einen langen Strickmantel gehüllt. Sie zog tatsächlich einen Koffer hinter sich her. Erschrocken schaute die junge Frau hoch und murmelte verlegen „Guten Morgen und sorry für den Krach!“

Magazin