Drei Wünsche

Markus lebte alleine in einer großzügig geschnittenen Wohnung, hatte einen großen Freundeskreis - oder vielleicht besser gesagt Bekanntenkreis, wenn er ehrlich zu sich selbst war - und einen guten und interessanten Job, den er tatsächlich mochte. Er trieb Sport, ging gerne abends aus und reiste gelegentlich. Er war ein Mann mit einer nicht ganz glatten Vita und einigen Erfahrungen, die ihn in Tiefen aber auch in Höhen geführt hatten. Er war finanziell unabhängig und abgesichert. Alles war gut. Aber gänzlich zufrieden und glücklich war er nicht.

Es regte ihn einfach auf, wenn Menschen in seinem privaten oder beruflichen Umfeld unhöflich, kompliziert, oberflächlich oder unehrlich waren. Meistens waren es nur Kleinigkeiten, die ihn zum Wahnsinn treiben konnten. Und das ärgerte ihn dabei am meisten. Er wünschte sich, cool zu bleiben, relaxt und entspannt. Gelassenheit war sein Lieblingswort und der alljährliche Vorsatz, den er am Silvesterabend fasste. Meist hatte er ihn schon um Viertel nach zwölf wieder vergessen. Als er wieder einmal in der Mittagspause in der kleinen Pizzeria vor sich hin grummelte, weil die Freundin eines Freundes durch ihre Penetranz und Affektiertheit seiner Ansicht nach den gestrigen gemeinsamen Abend ruiniert hatte, und alleine schon die Erinnerung an ihr durchdringendes, nerviges, aufgesetztes Lachen, das auch dann erscholl, wenn überhaupt kein Witz auch nur von Ferne zu erkennen war, in ihm alles zusammenzog, wurde er von einem freundlichen „Hallo, ist an Deinem Tisch noch ein Platz frei?“, aus allen trüben Gedanken gerissen.

Vor ihm stand eine Frau, die ihn mit einem bezaubernden Lächeln anschaute. Ein offener Blick, der ihn scheinbar geradezu durchleuchtete. Ihr Lächeln wurde noch ein wenig breiter, als er sie statt zu reagieren einfach nur anstarrte. „Darf ich?“, fragte sie. Er nickte stumm. „Mein Name ist Alex“, sagte sie und beobachtete ihn. „Wir haben uns noch nie gesehen und ich bin zum ersten Mal hier“, antwortete sie. Antwortete sie? Er hatte doch kein Wort gesagt! „Aber gedacht. Und zwar so laut, dass es keines Wortes bedurfte“, gab Alex zurück. „Kannst du Gedanken lesen?“, fragte er. „Wenn ich ehrlich bin, ja. Das wird dich jetzt wahrscheinlich etwas irritieren. Du brauchst auch nicht nach einem Trick, einer Verschwörung oder einer versteckten Kamera zu suchen, Markus“, fuhr sie fort. Er hatte seinen Namen nicht genannt, fiel ihm auf. Ein kalter Schauer lief ihm über den Rücken. „Ich bin hier, um dir zu helfen. Ich bin das, was man in den Märchen eine Fee nennt. Und nachdem du endlich mal Luft geholt hast, kommt jetzt der Klassiker: Du hast drei Wünsche frei! Glaubst du nicht? Doch, das hast du tatsächlich. Du bist in der letzten Zeit derartig nervig unglücklich und unzufrieden gewesen, dasses an der Zeit ist, dir ein wenig Entspannung und Glück zu gönnen. Das war eine Entscheidung von ganz oben.“ Sie ließ allerdings offen, wer mit ganz oben gemeint war.

„Bedenke jedoch bei der Wahl deiner Wünsche“, fuhr sie fort, „dass ich die Vergangenheit und die Zukunft nicht beeinflussen kann. Außerdem dürfen die Wünsche nur dich und niemand anderen betreffen. Also kein ewiges Leben – nicht für dich oder für andere – und keine Beziehungswünsche.“ „Das glaube ich jetzt nicht!“, sagte Markus mit rauer Stimme und er spürte das Besondere dieser Frau. Ihr Blick und die Worte, von denen er noch nicht einmal wusste, ob sie sie tatsächlich ausgesprochen hatte, hallten in ihm nach.

„Ich weiß, dass es schwer zu glauben ist, aber ich mache Dir einen Vorschlag: Versuche es einfach“, setzte sie nach. „Aber wähle deine Wünsche klug!“ Zögernd und mit leiser Stimme sagte er: „Gesundheit. Ich wünsche mir Gesundheit.“ Sie nickte ernst, nahm seine Hand und schloss die Augen. Markus spürte ein Ziehen, wellengleiche Ströme durchdrangen ihn und leiteten eine intensive Wärme in seine Hand, die Alex festhielt. Er sah förmlich, wie die Wellen ihren Körper erreichten, sie diese aufnahm und in den Boden ableitete. Einen Moment lang blieben beide still. Dann öffnete Alex die Augen und sagte: „Das war ein sehr kluger Wunsch. Ich habe alles gereinigt und weggenommen, was deiner Gesundheit nicht zuträglich war. Es waren ein paar schlimme Dinge dabei, von denen du noch nichts wusstest. Mach dir keine Sorgen, sie sind weg. Ebenso wie dein leidiges Rückenproblem - und dein Bauchspeck, das wirklich ungesund war.“ Markus schaute an sich herunter und betrachtete ungläubig seinen nun flachen Bauch. Die Hose würde rutschen, wenn er gleich aufstand. Sein Rücken fühlte sich frei, leicht und beweglich an. Keine Blockaden, kein Ziehen. „Der Rest ist auch in Ordnung. Glaub mir, es war ein wirklich kluger Wunsch. Gerade noch rechtzeitig.“

Alex lächelte ihn mit ihrem bezaubernden Lächeln an. „Jetzt zu deinem zweiten Wunsch“, sagte sie und schaute erwartungsvoll zu Markus. „Ich wünsche mir, dass mich nichts mehr aufregt. Das Verhalten der Menschen und alle ihre Ticks und Marotten sollen mir zukünftig egal sein“, sagte er mit fester Stimme. „Bist du dir da sicher? Ich halte das für keine gute Idee“, erwiderte Alex stirnrunzelnd. „Aber du hast doch gesagt, du möchtest mir Entspannung bringen, weil ich in letzter Zeit so genervt bin.“ „Ja, habe ich“, nickte sie ernst und miteinem leichten Bedauern in der Stimme sagte sie: „Ich darf dich in deinen Wünschen nicht beeinflussen. Du musst selbst wissen, was du dir wünschst. Aber ich habe eine Idee: Wir machen einen Deal. Wenn du dir sicher bist, dann erfülle ich dir deinen Wunsch. Über deinen dritten Wunsch jedoch sprechen wir erst in einer Woche. Wieder hier zur selben Zeit. Okay?“ „Kommst du auch bestimmt wieder?“, fragte er und merkte selbst, dass er sich wie ein Kind anhörte. Sie lächelte auf ihre unglaubliche Art. „Ja. Ich komme wieder.“ Sie legte ihm ihre kühle Hand auf die Stirn, schloss die Augen und als sie sie wieder öffnete, sah sie ihn besorgt an. Bis tief ins Herz. „Ich komme wieder. Und ich möchte, dass du ebenfalls hier sein wirst.“

Alex verschwand. Sie ging nicht, sie verschwand einfach. Markus registrierte es, wunderte sich nicht wirklich, zahlte und verließ die Pizzeria leichten Schrittes. Vor der Türe stieß er mit einem Fremden zusammen, der sich nicht entschuldigte und stattdessen Markus ein paar unfeine Worte hinterher rief. Markus zuckte mit den Schultern und stellte erstaunt fest, dass es ihm egal war. Ganz egal. Im Büro angekommen, betrachteten ihn die Kollegen verwundert und warfen ihm ein paar ironische Bemerkungen zu, von denen sie wussten, dass sie ihn direkt hochfahren würden. Doch er lächelte und ging gleichmütig weiter. Verdutzte Gesichter schauten ihm nach. Die Kundengespräche verliefen wie immer, allerdings mit dem Unterschied, dass es ihm völlig gleichgültig war, ob ein Kunde anschließend zufrieden war.

Am zweiten Tag führte sein gleichmütiges Verhalten dazu, dass ein wichtiger Kunde sich über ihn bei seinem Chef beschwerte. Aber auch dies ließ Markus völlig unbeeindruckt. Den Chef allerdings nicht. Er verabredete sich mit seinen Freunden und sagte mit ungewohnter Offenheit in schonungslosen Worten jedem, was er gerade dachte. Seltsamerweise interessierten ihn die anderen gar nicht mehr und er hatte demzufolge nicht viele Argumente. Ihre befremdeten Gesichter nahm er wahr, kümmerte sich jedoch nicht darum. Am fünften Tag, sagten ihm Freunde ein Treffen mit einer fadenscheinigen Begründung ab. Leise regten sich erste Zweifel in ihm, ob er das nun wirklich so gewollt hatte. Er verbrachte den Abend alleine. Am sechsten Tag gingen ihm die Kollegen aus dem Weg und der Chef bat ihn zu sich. Der Versuch eines einfühlsamen Gesprächs bemerkte Markus zwar, konnte jedoch nicht darauf eingehen, obwohl er es gerne getan hätte. Er fühlte sich fremd und mochte sich selbst nicht.

Dann hörte er, wie sich zwei Kolleginnen über ihre Kinder unterhielten. Marie, die er sympathisch fand und sehr schätzte, erzählte von ihrem kranken Kind. Als sie ihn sah, erschrak sie und verstummte. Markus war irritiert und fühlte durch seine neue Gleichgültigkeit hindurch so etwas wie leise Trauer. Am siebten Tag erinnerte er sich an seine Verabredung und schwankte, ob es ihm wichtig genug war, sie tatsächlich einzuhalten, aber sein Pflichtgefühl obsiegte. Alex wartete bereits am gleichen Tisch wie bei ihrem ersten Treffen und schaute ihm mit forschendem Blick und gerunzelter Stirn entgegen. „Wie geht es dir, Markus?“ „Ganz gut.“ „Bist du glücklich?“ „Ich weiß nicht. Diese Frage habe ich mir noch gar nicht gestellt.“ „Dann stelle ich sie: Bist du glücklich?“ „Nein, wenn ich es mir recht überlege.“ „Was fehlt dir, um glücklich zu sein?“ „Meine Freunde. Lachen. Liebe“, sagte Markus zögernd. „Gleichgültigkeit zählt nicht dazu?“ Er schaute die Fee an und schüttelte erst langsam und dann recht bestimmt den Kopf. „Nein, Gleichgültigkeit gehört nicht zum Glück.“

„Was ist dein dritter Wunsch?“ „Ich möchte glücklich sein.“ „Du weißt, dass ich dir deinen zweiten Wunsch wieder nehmen muss. Denn für Freunde, Lachen und die Liebe bedarf es Mitgefühl und nicht Gleichgültigkeit. Das bedeutet auch, dass man sich schon einmal ärgert.“ „Ja. Ich möchte glücklich sein.“ Alex legte ihre Hand auf seine Stirn und schloss die Augen. Er empfing einen warmen Strom bis tief in sein Herz. Er lachte. Lachte und lachte, bis ihm die Tränen kamen. Alex öffnete die Augen und strahlte ihn mit ihrem unvergleichlichen Lächeln an. Sie stand auf, umarmte Markus und flüsterte ihm leise zu: „Ich wünsche dir ein schönes Leben!“

Sie verschwand ganz einfach aus seinen Armen. Markus schnappte nach Luft. Er hätte ewig Alex in den Armen halten können. Er wusste, dass sie für immer verschwunden war. Doch das Glück und die Liebe hatte sie bei ihm gelassen.

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