Ein Thema zum Herantasten

In den letzten Ausgaben von Chili haben wir Ihnen in der Reihe Mit allen Sinnen die menschlichen Sinne Sehen, Hören, Riechen und Schmecken näher gebracht. Mit dem Tastsinn, einem oft vergessenen, noch öfter unterschätzten Sinn, möchten wir diese Reihe nun zum Abschluss bringen.

Menschen erfahren ihre Umwelt durch die Interpretation einer Flut von Sinneseindrücken, die unweigerlich und ständig auf sie einwirken. Der Tastsinn ist einer jener Sinne, der grundlegende Informationen liefert, aber letztendlich für viel mehr verantwortlich ist, als uns bewusst ist, und gerade deshalb eine besondere Stellung im Werkzeugkasten menschlicher Sinneswahrnehmungen einnimmt.

Neben dem Geschmackssinn, der sich bereits im Mutterleib entwickelt, verfügen Menschen bereits in dieser frühen Phase ihrer Entwicklung über einen ausgeprägten Tastsinn. Laut Dr. Martin Grunwald, Leiter des Haptik-Forschungslabors an der Medizinischen Fakultät der Universität Leipzig, ist der Tastsinn „ein Lebensprinzip“, denn „ohne ihn gibt es kein Leben“. Menschen würden „blind und taub geboren, aber ohne den Tastsinn ist noch niemand auf die Welt gekommen“. Die Bedeutung des Tastsinns zeige sich, so Dr. Grunwald weiter, bereits während der Embryonalentwicklung, da der Sinn „wesentlich früher als das auditive oder das visuelle System“ funktioniere. Schon während der achten Schwangerschaftswoche könne ein erst zweieinhalb Zentimeter großer Fötusauf Reize im Lippenbereich reagieren. „Nur wenige Wochen später kann das Ungeborene Greifbewegungen ausführen, die Nabelschnur umfassen oder beginnt, am eigenen Daumen zu lutschen.“

Gleichwohl Dr. Grunwald das Fühlen zu seinem Forschungsschwerpunkt gemacht hat, hinkt die Forschungswelt in ihrer Gänze gefühlt hinterher. Von allen Sinnen ist der Tastsinn kaum überraschend der Sinn, der bisher am wenigsten erforscht wurde und von dem wir deshalb insgesamt nur wenig wissen.

Berührungen erzeugen Reize auf der Haut, die bei Babys die Ausschüttung von Wachstumshormonen hervorrufen. Bleiben in diesem Stadium der menschlichen Entwicklung Berührungen aus, dann verzögert sich laut Julia von Sengbusch auf www.planet-wissen.de die Entwicklung des jungen Menschen und seelische Schäden sind nicht auszuschließen. Im schlimmsten Fall, so von Sengbusch weiter, könnte das Ausbleiben von liebevollen Berührungen sogar zum Tode führen. Auch bei Erwachsenen lösten „sanfte Berührungen die Ausschüttung günstiger Hormone aus, die das Wohlbefi nden steigern, den Blutdruck senken und die emotionale Bindungsfähigkeit unterstützen.“

Mit etwa zwei Quadratmetern Oberfl äche und bis zu einem Gesamtgewicht von zehn Kilogramm ist die menschliche Haut zweifelsohne das größte Sinnesorgan des Körpers und erfüllt eine Fülle an (über-)lebenswichtigen Aufgaben. Seng-busch fasst die Qualitäten der Haut wie folgt zusammen: „Die Haut hält unseren Körper zusammen, schützt ihn vor Austrocknung, bildet eine Barriere für Keime, Schmutz und Wasser und reguliert über die Schweißproduktion die Körpertemperatur. Und sie liefert uns wichtige Informationen über unsere Umwelt und uns selbst.“

Damit die Haut alle ihre Aufgaben erfüllen kann, wird jeden Monat die oberste Zellschicht (Teile der Epidermis) der gesamten Hautfläche erneuert. Die drei Hautschichten von außen nach innen, ohne weitergehende Unterteilung: Epidermis, Lederhaut und Subcutis. Alle drei Schichten enthalten Rezeptoren, die Reize, die auf uns von außen einwirken, aufnehmen und in Form elektrischer Impulse an das Rückenmark weiterleiten. Von dort aus wird dem Gehirn signalisiert, welcher Eindruck gerade auf uns einwirkt und im Gehirn interpretiert, um gegebenenfalls eine Handlung einzuleiten.

Damit das Gehirn genügend Information bekommt, um eine ausgewogene Entscheidung zu fällen, besitzt unser Körper verschiedene auf bestimmte Bereiche spezialisierte Rezeptoren. Haarfollikelrezeptoren, die in der Lederhaut sitzen, erfassen Berührungen hinsichtlich deren Zeitpunkt und Intensität. An unbehaarten Körperstellen übernehmen diese Aufgabe die so genannten Meissner-Körperchen. „Wenn wir uns stoßen, wird das Gehirn von den Merkel-Zellen in der Epidermis oder den Ruffini-Körperchen in der Lederhaut über die Druckveränderung informiert. Vibrationen empfangen die Vater-Pacini-Körperchen in der Unterhaut und Schmerzsignale werden von freien Nervenenden verarbeitet“, beschreibt von Sengbusch weiter.

Ebenfalls sehr gut organisiert und vernetzt sind die Rezeptoren des menschlichen Körpers, die sich für die Temperaturwahrnehmung verantwortlich zeichnen. Kälte- und Wärmerezeptoren erfassen ständig und unabhängig von dem Medium, in dem sich der Körper ge-rade befi ndet, die Außentemperatur und geben diese Information an das Gehirn weiter. Dort werden die Informationen verarbeitet und gegebenenfalls dazu verwandt, die Körpertemperatur auf das Mittel von 37 Grad Celsius anzuheben oder mittels Aktivierung der Schweißproduktion abzusenken.

Bei all den Sinneseindrücken und Signalen durch die schier unendliche Zahl verschiedener Rezeptoren stellt sich die Frage, warum wir nicht pausenlos mit der Interpretation von Sinneseindrücken beschäftigt sind. Der Grund hierfür ist die unterschiedliche Adaptionszeit von Rezeptoren. Rezeptoren mit einer schnellen Adaptionszeit erfassen einen Reiz nur dann, wenn er startet, endet oder sich ändert. Ist der Reiz gleichbleibend, dann senden die Rezeptoren keine Information an das Gehirn. Ändert sich jedoch der Reiz, dann wird diese Änderung direkt an das Gehirn weitergeleitet und erneut interpretiert. Diese Art Rezeptoren dienen vor allem der Aufnahme von Berührungen und Vibrationen, die auf den Körper einwirken.

Langsam adaptierende Rezeptoren, wie beispielsweise Druck- und Schmerzrezeptoren leiten Reize auch dann weiter, wenn keine Veränderung des Reizes stattfi ndet, um auf besondere Gefahren hinzuweisen. Summa summarum kann das menschliche Gehirn zwischen verschiedenen Reizen unterscheiden und diese hinsichtlich ihrer Wichtigkeit für das Wohlbefi nden des Körpers unterscheiden. Weniger (überlebens-)wichtige Reize werden unbewusst erfasst, damit wichtigen Reizen die Möglichkeit einer bewussten Handlung folgen kann. Quellen: Interview von Ulrike Gebhardt mit Dr. Martin Grunwald, 25.07.2014

www.spektrum.de/news/ohne-tastsinn-gibtes- kein-leben/1302125 ARD- Online Angebot „planet wissen“, Autorin: Julia von Sengbusch, 06.05.2014 www.planet-wissen.de/natur/sinne/fuehlen_ der_unterschaetzte_sinn/index.html

Jens Wacker