Lebenszeit

Als Marion ihren Koffer packte, um ihn zu verlassen, sagte sie zum Abschied: „Es tut mir leid zu gehen. Aber ich will den Rest meines Lebens nicht mit einem miesgelaunten Langweiler und Nörgler verbringen, zu dem Du bedauerlicherweise geworden bist. Ich habe mit meiner Lebenszeit andere Pläne.“ Hans war wie vor den Kopf gestoßen. Stumm sah er sie durch die Türe endgültig verschwinden. Stumm blieb er in der Wohnung zurück und stumm saß er auf dem Stuhl am Fenster in der Küche. Hans zog sich zurück. Im Büro und beim Einkaufen sprach er nur das Notwendigste. Lachen sah man ihn nicht. Schon lange nicht mehr. Er verließ das Haus nur, wenn er musste, und beantwortete Anrufe, wenn ihm danach war. Das war selten der Fall. Er aß, um nicht zu verhungern, und trank, um zu vergessen. Sein Gesicht wurde grau, seine Haare ebenfalls. Auf Kleidung legte er keinen Wert mehr und den Friseur traf er selten.

Erst als sein Herz für ihn hörbar pochte, bemerkte er, dass er noch am Leben war. Brustenge kam hinzu, die Luft wurde dünner. Er dachte über seine Lebenszeit nach und fragte sich, ob sie zu Ende ging. Der Gedanke machte ihm Angst. Hans beschloss zum Arzt zu gehen. Sie kannten sich schon viele Jahre, doch in letzter Zeit hatten sie sich kaum gesehen. Der Arzt bemerkte sofort, dass Hans einige grundlegende Veränderungen hinter sich hatte und das Herz in der jüngeren Vergangenheit wahrscheinlich mehr als nur eine Rhythmusstörung zu verdauen gehabt hatte. Dr. Franke blieb erst einmal ruhig. Er fragte nach dem Grund für sein Kommen und ließ Hans viel Zeit, die er schweigend verbrachte. Er fragte nach Marion. „Sie ist weg!“, war alles was Hans herausbrachte. Dr. Franke nickte. Das war es also. „Machen Sie Sport?“ „Nein.“ „Gehen Sie spazieren?“ „Nein.“ „Arbeiten Sie im Garten?“ „Nein.“ „Essen Sie viel Gemüse und Obst?“ „Nein.“ „Wer kocht für Sie?“ „Niemand.“ „Schlafen Sie gut?“ „Nein.“ „Trinken Sie Wasser?“ „Nein.“ „Wein?“ „Ja – eine Flasche am  Abend, um die Fragerei abzukürzen.“

Dr. Franke nickte. „Warum hat Sie Ihre Frau verlassen?“ „Weil sie ihre Restlebenszeit nicht mit einem schlechtgelaunten Nörgler verbringen will, der sie und sich langweilt.“ „Und was ist mit Ihnen? Halten Sie es mit diesem nörglerischen Langweiler aus?“ Hans schaute den Arzt verblüfft an. Dr. Franke zückte den Rezeptblock und schrieb:

1 x täglich eine halbe Stunde spazieren gehen
1 x täglich eine warme Mahlzeit selbst zubereiten
2 x wöchentlich auf dem Markt einkaufen
1 x monatlich Friseur
1/8 Glas Wein pro Abend
1 Buch pro Woche lesen
1 x täglich lächeln
14 Tage Urlaub in der Sonne

„In vier Wochen sehen wir uns wieder“, sagte er und gab Hans das Rezept.