Eiskalt

Langsam zog die Kälte an ihren Beinen hoch. Es war Februar. Ein ungemütlicher Abend. Sie versuchte, den Mantel fester um ihren Körper zu hüllen. Doch der dünne Stoff schützte sie nicht vor ihren Gedanken, die sie frösteln ließen. Es war kein Abend wie jeder andere. Ganz gewiss nicht. Lange hatte sie darauf gewartet. Doch nun wünschte sie sich weit weg. Sehr weit weg. Davonlaufen, das wusste sie, war keine Lösung. Sie fror fürchterlich.

Die Tür öffnete sich und gab den Blick frei in das Innere des Saals. Warmes, gelbliches Licht lud sie ein, näher zu kommen, einen Blick zu wagen. Der Mann am Eingang war ganz in schwarz gekleidet, der kurz geschorene Kopf hob sich bedrohlich von dem hellen Hintergrund ab. Sie blieb stehen und lauschte den Geräuschen, die aus der geöffneten Türe drangen. Schreckliches Gelächter aus weit aufgerissenen Mündern. Nur mit Mühe konnte
sie ihre Beine am Fortlaufen hindern. Der Mann im Türrahmen schaute an ihr vorbei und rief den Namen einer Frau, die hinter ihr auf der Bank saß. Fast noch ein Mädchen war sie. Sie schaute hoch, bleich, mit weit aufgerissenen Augen. Das Mädchen erhob sich zögernd und folgte dem Mann wortlos. Die Tür schloss sich hinter den Beiden.

Wieder war es kalt und dunkel. Ihre Spannung war kaum zu ertragen. Sie rieb die feuchten Hände aneinander. Die Minuten vergingen quälend langsam. Wieder öffnete sich die Türe. Das Mädchen sprang aus dem Saal und rannte an ihr vorbei. Sie hörte sie weinen. Kälte. Eiseskälte. Unerträgliche Spannung. Ihr war übel. Körperliche Schmerzen
bereitete ihr dieses Warten. Sie hörte, wie ihr Name gerufen wurde. Mechanisch legte sie den Mantel ab und strich sich mit den Fingern durchs Haar. Wie bei einer Marionette bewegten sich ihre Beine wie von selbst. Der Mann schloss die Türe hinter ihr und fasste sie sanft am Arm. Das gelbliche Licht umhüllte ihre Gestalt und wärmte sie
ein wenig. Doch die Luft blieb ihr weg. Ihre Kehle war wie zugeschnürt. Sie konnte nicht sprechen. Sie sollte auch nicht sprechen.

Sie sollte singen. Ihr Auftritt. Ihr Tag. Ihr Casting. Ihre Chance. Sie stieg die wenigen Stufen zur Bühne hinauf und
stand nun vor der hellen Wand aus Scheinwerfern. Das war gut. Sie wollte niemanden sehen. Sie sah niemanden. Hörte nicht, was gesagt wurde. Sie wusste nur, dass sie jetzt beginnen würde. Jetzt! Und sie sang. Die Worte perlten aus ihr heraus zu der Musik, die aus den Lautsprechern zu ihr drang. Nun war sie frei. Nun war ihr alles egal. Sie tanzte und sang und fühlte sich weit entfernt von der Angst, die sie bis vor wenigen Augenblicken scheinbar gelähmt hatte.


Der letzte Ton verstrich. Augenblicklich wurde ihr die Situation bewusst. Nun wollte sie die Wand der Scheinwerfer mit ihren Blicken durchdringen und suchte den Sprecher, der das Wort an sie richtete. Gnädig nahm der Lichttechniker den Schweinwerfer von ihrem Gesicht. Sie hatte vor einer Gruppe von etwa 15 Männern und Frauen gesungen. Freundliche Gesichter, die ihr zugewandt waren, konnte sie sehen. Ein Mann sprach. Sie verstand nicht, was seine Worte bedeuteten. Der dunkle Türsteher fasste sie wieder am Arm und geleitete sie zur Tür. Dort blieb sie stehen und sah ihn fragend an. Er lächelte. „Sie haben den Job! Gratuliere!“

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