Was ist schon perfekt?

Jeder ist seines Glückes Schmied. Eine alte Weisheit mit dauerhafter Aktualität. Diese Weisheit besagt, dass man sein Leben selbstbestimmt leben soll und die Verantwortung für das eigene Glück nicht anderen übertragen sollte. Derjenige, der falsche Entscheidungen trifft, ob aus Unwissenheit oder aus Bequemlichkeit, Habgier oder Gedankenlosigkeit, muss mit den Konsequenzen leben.

Anders verhält es sich mit einem modernen Trend, der immer präsenter zu werden scheint. Der Drang zur Selbstoptimierung hat bereits bei einigen Mitmenschen zwanghafte Züge angenommen. Nichts ist mehr gut genug und schon gar nicht mehr man selbst. Das moderne Credo lautet: Mach etwas aus deinen Potenzialen, deinen Muskeln, deiner Partnerschaft, deinen Kindern und deinem Geld. Leider wird die Frage nicht mehr gestellt, was tatsächlich die eigenen Potenziale sind, was den eigenen Muskeln gut tut, wie belastbar die Partnerschaft ist und worin die Wünsche und Bedürfnisse der Partner bestehen. Und ob die Kinder es so toll finden, wenn sie optimiert werden, statt ihren eigenen Weg einzuschlagen, ist mehr als fraglich. Tja, und das Geld? Das ist und war schon immer so eine Sache, die Finanzen optimieren zu wollen.

Der Selbstoptimierungswahn suggeriert, dass man alles schaffen kann. Wenn man nur will. Mit Disziplin und den Tipps aus praktischen Handbüchern oder sogar Kochbüchern kann es nicht mehr schief gehen. Apps helfen uns dabei, die Kontrolle über uns, unsere Angewohnheiten, Kalorien und Fitnessaktivitäten zu behalten. Wir gehen die vorgeschriebenen, aber leider im Wert völlig aus der Luft gegriffenen 10.000 Schritt am Tag und haben längst unseren BMI errechnet. Schminktutorials und Fashionblogger erklären uns, wie wir auszusehen haben und ein Klamottenportal versendet an Männer ganze Outfits, damit sie toll, modisch und trendy aussehen, ohne jene Männer jemals gesehen zu haben. Online-Seiten zeigen uns die Frisuren für Frauen ab 30, ab 40 und ab 50 Jahren und sagen uns außerdem, welche Stylings bei Männern besonders gut ankommen. Dabei scheint es völlig gleichgültig zu sein, den Wahrheitsgehalt und die individuelle Passgenauigkeit jener tollen Tipps zu überprüfen. Es ist nicht zu fassen, dass wir glauben, damit uns selbst optimieren zu können.

Es gibt Ratgeber, die uns mitteilen: „Jeder ist beziehungsfähig“ und leiten uns an, wie Männer und Frauen ticken, welche Antworten auf welche Marotten zu geben sind und mit welchen tollen Reaktionen wir die Situation nicht nur in den Griff kriegen, sondern sogar die Oberhand gewinnen können. Wenn wir nur alle Ratschläge akribisch verinnerlichen und den Handlungsanweisungen Folge leisten, dann steht einer erfüllten Liebesbeziehung auch bis ins hohe Alter nichts, aber auch gar nichts im Wege.

Wer all dies nicht verfolgt, nicht beachtet, keine Workouts regelmäßig durchzieht und immer noch an seinen schlechten Blutwerten, seinen Rückenschmerzen, seinen schlaffen Oberarmen und an Schlupflidern leidet, ist natürlich selbst schuld und kann gar nicht glücklich werden. Außerdem sieht man das ja auch an den Kindern: Das Abi erst im zweiten Anlauf geschafft und die Tochter ist immer noch unverheiratet. Kein Wunder. Jeder kann toll, glücklich, erfolgreich, ewig jung, geliebt, reich und gesund sein. Man hat es selbst in der Hand. Alles. Wer es nicht ist, ist gescheitert. Scheitern – und das ist ja glasklar - ist der abgrundtiefe Gegenpol zur Selbstoptimierung.

Das ist reiner Stress. Niemand kann in allen Belangen Perfektion erreichen. Mal ganz davon abgesehen, dass für andere gerade die Menschen häufig als besonders liebenswert erscheinen, die mit Ecken und Kanten gesegnet sind und eben nicht perfekt sind. Lebenskrisen, Schwächen und Unsicherheiten gehören zum Leben dazu und haben das Potenzial, in ihrer Überwindung den Charakter zu stärken. 

Es ist schön, wenn man versucht, sich selbst weiterzuentwickeln. Doch sollte man zwischen seinen eigenen Bedürfnissen, dem Neid der anderen und den Zielen der Industrie unterscheiden.