Aus der Zeit gefallen

Die ganze Stadt schien sich auf einen Kaffee verabredet zu haben. Auf dem Platz vor der Kirche, der von den schönen alten Fachwerkhäusern umsäumt war, war kaum noch ein Tisch der zahlreichen Straßencafés frei, so dass sich viele Menschen rund um den Brunnen mit einem Kaffee oder einem Eis niederließen, manche saßen auf den niedrigen Fensterbänken, auf Treppenstufen, die zur Kirche führten, oder den Umrandungen der Blumenhochbeete. Junge Leute, Familien, Pärchen oder auch Gruppen von Älteren hatten hier an diesem sonnigen Nachmittag zusammengefunden. Lachen und freundliche Stimmen vereinten sich zu einem Summen. Die flanierenden Menschen präsentierten sich einem überaus großen, wenn auch nicht in allen Fällen interessierten Publikum. Man sah Menschen telefonieren, gestikulieren, schwatzen, kommunizieren. Nur an einem Tisch war es seltsam ruhig. Ein Herr saß dort, vor sich eine Tasse Tee, und las aufmerksam in einer Zeitschrift. Ab und an nahm er ein Buch aus seiner in die Jahre gekommenen braunen Aktentasche hervor, blätterte darin, las, wobei er den Finger zu Hilfe nahm, rückte wieder seine Brille zurecht und notiere etwas auf einem Notizblock. Dann schrieb er eine kurze Bemerkung an den Rand der Zeitschrift. Ein Quervermerk vielleicht, dachte ich. Ich beobachtete den Mann schon eine Weile. Sein Alter war schwer zu schätzen, jedoch sicherlich über 60 Jahre. Er war schlank, fast hager. Er trug einen Anzug mit Weste, ein weißes Hemd, Krawatte. Die Schuhe waren blitzblank geputzt, geschnürt und schmal zulaufend. Der Stil der Kleidung glich einer Mode längst vergangener Dekaden, die Stücke selbst jedoch schienen neu zu sein. Nichts war verblichen, abgewetzt oder glänzend. Eine gepflegte Erscheinung. Der Eindruck wurde durch seine Art sich zu bewegen noch unterstrichen. Nichts lenkte ihn ab, sein Blick blieb konzentriert auf seiner Lektüre. Er schien, wie aus der Zeit gefallen zu sein. Als sich eine Bedienung, eine junge Frau in Rock und Shirt mit aufgedrucktem Emblem des Cafés, seinem Tisch näherte, hob er den Blick mit freundlicher Aufmerksamkeit, schien eine Bestellung aufgegeben zu haben, nickte kurz und wandte sich wieder der Zeitschrift zu. Seltsamerweise hatte sich die Körperhaltung der jungen Frau verändert. Sie war gerader, würdevoller, sicherer. Ich war fasziniert von diesem Mann, der in seiner zurückhaltenden Ruhe einen unübersehbaren Gegenpol zu seinen quirligen Mitmenschen bot. Ich konnte nicht genau sagen, woran es lag. Die Kleidung? Die Körpersprache? Die Würde? Oder seine Konzentration? Ein Mix aus allem? Wahrscheinlich. Meine Zeitgenossen - wenn man denn wirklich annehmen wollte, dass jener Mann ein Zeitreisender aus einer anderen Epoche war – waren sehr viel nachlässiger, wenngleich moderner gekleidet. Sie benahmen sich im Gros nicht respektlos. Doch sie waren weit entfernt von der Haltung des Anzugmannes. Sein Fokus lag auf der Sinnhaftigkeit des geschriebenen Worts und nicht in der Fülle der Wörter, die den Platz auszufüllen schienen.

Nach einer Weile, in der der Mann eine zweite Tasse Tee getrunken und ein Stück Kuchen verzehrt hatte, mehrfach sein Buch zur Hand genommen und mehrere Seiten seines Notizblocks beschrieben hatte, dehnte sich seine Ruhe aus. Die Gespräche an den Nachbartischen waren weniger aufgeregt, die Blickkontakte der Gesprächspartner dauerten länger, die Lautstärke sank. Es war eigenartig. Die gleichen Menschen, die eben noch um die Aufmerksamkeit der anderen gebuhlten hatten, veränderten ihre Haltung von Präsentation auf Hinwendung. Die Schultern waren gerader, der Blick offener, die Augen neugierig. Auch die Kleidung schien passender, besser gewählt und weniger ein Kostüm als noch zuvor. Voller Verwunderung betrachtete ich den Platz voller Menschen, der mehr und mehr zu einer Ansammlung von Individuen wurde. Immer noch überwog die freundliche Tonart, die jedoch ohne hysterische Hochtöne einfach voller im Klang geworden war. Und auch das Lachen ohne Künstlichkeit öffnete schneller das Gegenüber.

Mein Blick wanderte zurück zum Tisch des Anzugmannes. Doch was war das? Wo war er, der Mann, den ich jetzt lange beobachtet hatte. Weg. Der Tisch war noch an Ort und Stelle. Aber dort, wo der Mann gesessen, gelesen und Tee getrunken hatte, saß nun eine Familie mit zwei Kindern. Er war weg. Ich blickte umher, ob ich ihn noch entdecken konnte, wie er den Platz verließ. Aber er war verschwunden. Der Mann, der wahrscheinlich einfach in der Zeit weitergereist war.