Selbstverordneter Rückzug

Einsamkeit in der Kunst, Philosophie und Jugendkultur

In der Kunst

Ein Pinselstrich in Einsamkeit. Abseits der störenden Einflüsse menschlichen Wirkens sitzt ein Maler alleine vor seiner Staffelei und betrachtet die beindruckende Szenerie, die sich vor ihm auftut. Die selbstverordnete Einsamkeit, insbesondere aber die sich in aller Ruhe auftuende Gefühlswelt fließen über die Farben und die meisterliche Kunstsprache des Schaffenden in das Werk über.

So oder so ähnlich dürfte sich eine Momentaufnahme berühmter Künstler aus der Zeit der Aufklärung dargestellt haben. Der Rückzug, die Selbstfindung und Ruhe als rahmengebende Voraussetzung künstlerischen Schaffens waren dabei nicht zufällig gewählt. In der Aufklärung erhielt der Begriff der Einsamkeit gerade in den Bereichen Kunst, Musik und Literatur eine positive Aufwertung. Positiv deshalb, weil Einsamkeit nicht nur in Künstlerkreisen als brauchbares Mittel zur Selbstbesinnung und zur Steigerung der geistigen Aktivität verstanden wurde.

In der Folge, in der Epoche der Empfindung und Romantik, rückt das Bild des sich von der Gesellschaft Abwendenden zunehmend in den Mittelpunkt des gesellschaftlichen Verständnisses von Einsamkeit. Hier wurde der Einsame als schwermütiger, zutiefst melancholischer Charakter verstanden, der sich der mutmaßlich gefühlslosen Außenwelt zu entziehen scheint. Mittels des Rückzugs aber, und das war zumindest den Kunstschaffenden zu jener Zeit bekannt, eröffnete sich auch die Möglichkeit, Dinge aufmerksam und differenziert - aus der Entfernung - zu betrachten. Ein herausragendes Beispiel aus dem Bereich der Literatur für diese Epoche ist der Roman Die Leiden des jungen Werthers von Johann Wolfgang Goethe. Bekannte Vertreter aus dem Bereich Kunst, die Einsamkeitserfahrungen in ihrer Malerei thematisieren, sind unter anderen Caspar David Friedrich und Vincent van Gogh.  

In der Philosophie

Bereits seit der Antike beschäftigen sich Philosophen mit dem menschlichen Phänomen der Einsamkeit. Stoiker wie zum Beispiel Lucius Annaeus Seneca, einer der meistgelesenen Schriftsteller seiner Zeit, traten für ein gesundes Wechselverhältnis zwischen Einsamkeit und Geselligkeit ein. Ähnlich hielten es auch einer der Vordenker des Renaissance-Humanismus, Francesco Petrarca, und Michel de Montaigne als Jurist, Philosoph, Humanist und Politiker in Personalunion, während der beginnenden Reformation und Gegenreformation. Ein moderner Versuch der Beschreibung des Einsamkeitsbegriffes entstammt Friedrich Nietzsche, der im Einsamen eine Qualität des Übermenschen sieht (Also sprach Zarathustra, 1883-1885).

Was alle eint, ist die Erkenntnis, dass das Individuum, also der Einzelne, seine Identität zuallererst in Gruppen findet. Die erste Gruppe, in der sich das Individuum in sozialen Verhaltensweisen übt, ist die Familie. Die Summe der gesammelten positiven und negativen Eindrücke prägt die Art zu fühlen und zu denken nachhaltig. Genauso natürlich wie das Lernen und Leben in der Gruppe ist das eigene Verlangen nach Rückzug und Alleinsein. Wenn Einsamkeit nicht selbst gewählt wird, dann beginnen in der Regel die Probleme. Ebenso verhält es sich, wenn eine soziale Gruppe das freie Denken und Handeln des Einzelnen durch die Vergabe von Rollen innerhalb der Gruppe einschränkt. Dann kann eine selbstverordnete Einsamkeit auch eine befreiende Wirkung für das Individuum entfalten.

Gleichwohl ist das Verhältnis zwischen dem Einzelnen und einer Gemeinschaft nie zu Ende diskutiert. Klar ist, dass weder ein erhöhtes Maß an Kollektivismus noch eine Verherrlichung der Einsamkeit wirklich dauerhaft tragen. Vielmehr ist die Anerkennung des Individuums und dessen Wertschätzung als Teil einer heterogenen Gemeinschaft zentral.
In der Jugendkultur - Hikikomori

Wer hierzulande vom so genannten Hikikomori-Syndrom hört, der denkt, wenn überhaupt, an ein Phänomen aus Japan. Hikikomori heißt so viel wie sich einschließen oder gesellschaftlicher Rückzug und beschreibt, in seiner übersetzten Form bereits sehr treffend, was sich hinter dem fremdländischen Begriff verbirgt. Das japanische Gesundheitsministerium beschreibt Hikikomori wie folgt: Personen, die sich weigern, das Haus oder die Wohnung zu verlassen - nicht selten für Jahre und Jahrzehnte. Dabei kann dieser Zustand meist nur deshalb aufrechterhalten bleiben, weil sich Hikikomori im heimischen Umfeld (Haus der Familie, vielfach das Kinderzimmer) isolieren und durch die Familie, häufig die Mutter, weiterhin versorgt werden.

Erstmals beschrieben wurde das Phänomen, das übrigens mehrheitlich Männer trifft, Ende der 1990iger Jahre von einem japanischen Psychologen. Insgesamt, so zumindest die letzte Erhebung der japanischen Regierung, sind etwa 540.000 Menschen im Alter zwischen 15 und 39 betroffen. Die Dunkelziffer ist aber sehr wahrscheinlich um ein Vielfaches größer, weil Personen über ab 40 gar nicht befragt wurden und davon ausgegangen wird, dass viele aus Scham im Verborgenen blieben und erst gar nicht an der Umfrage teilnahmen.

Seinen Anfang nimmt Hikikomori meist bereits in der Jugend. Die Isolation von der Außenwelt wird durch Betroffene als Reaktion auf ein hohes Maß an Überforderung beschrieben. Gestiegene Erwartungshaltungen innerhalb der Familie und Mehrheitsgesellschaft und dadurch entstehende Versagensängste führten demnach dazu, dass Betroffene bewusst den Weg in die Isolation suchten. Einen vorgezeichneten Rückweg, der auf alle Hikikomori gleich anwendbar ist, gibt es nicht. Seit

Die gemeinnützige Organisation New Start aus Japan hat es sich zum Ziel gesetzt, Hikikomori aus ihrer sozialen Isolation zu holen. Auf Wunsch der Eltern treten so genannte Mietschwestern/-brüder in Kontakt mit den Zurückgezogenen und zeigen diesen nach und nach einen Weg auf, das Haus zu verlassen und einfachen Tätigkeiten nachzugehen. Eine Arbeit, die nicht selten Jahre in Anspruch nimmt.

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