Gesichtsblindheit

Es gibt Menschen, mit denen man jahrelang zur Schule gegangen ist, Tür an Tür gewohnt hat oder als Kollegen auf dem gleichen Stockwerk gearbeitet hat. Trotzdem laufen sie an einem vorbei oder können sich scheinbar gar nicht mehr erinnern. Das kann viele Gründe haben, die nicht immer angenehm zu erfahren sind. Ein Grund jedoch ist unbeabsichtigt. Er nennt sich Prosopagnosie und kann mit Gesichtsblindheit übersetzt werden. Prosopagnosie bezeichnet somit die Unfähigkeit, Personen alleine anhand des Gesichts zu erkennen. Personen mit Prosopagnosie können ein Gesicht sehen, sind also nicht blind, allerdings sehen für sie alle Gesichter gleich aus. Ein Gesicht enthält für sie keine individuellen Merkmale, anhand derer sie Personen, die sie kennen, wiedererkennen könnten. Die meisten Personen mit Prosopagnosie haben keine Schwierigkeiten bei der Wahrnehmung, Verarbeitung und Erkennung von Objekten, Alltagsgegenständen, Gebäuden oder Landschaften. Die Prosopagnosie betrifft demnach ausschließlich die Wahrnehmung von Gesichtern. Das kann im Alltag für die Betroffenen zu Schwierigkeiten führen. Auffällig häufig haben Betroffene kein Interesse an Filmen, Theater oder Feiern mit vielen Menschen, da sie ihnen aufgrund ihrer Unfähigkeit, die handelnden oder anwesenden Personen zu erkennen, kaum folgen können.

In schweren Fällen von Prosopagnosie treten soziale Schwierigkeiten auf, da die menschliche Kommunikation und das Sozialverhalten vom Erkennen von Gesichtern und den darin enthaltenen Informationen abhängig sind. Wie wichtig Gesichter in unserem sozialen Alltag und Miteinander sind, wird deutlich in der Art und Anzahl der Informationen, die ein Gesicht übermitteln kann. Ist der Kommunikationspartner eine Frau oder ein Mann? Wie alt ist sie oder er? Kenne ich ihn oder sie überhaupt? Wenn man zudem bedenkt, wie viele nonverbale Informationen aus Gesichtsausdrücken oder Blickrichtungen abgelesen werden können, macht dies ansatzweise deutlich, wie wichtig die Wahrnehmung von Gesichtern ist und welche zentrale Rolle sie während der interpersonellen Interaktion spielen.

Diese Schwäche, die übrigens überproportional häufig bei Hochbegabten auftritt, ist kaum bekannt und leider auch nicht behandelbar. Meist wissen die Betroffenen selbst nicht, warum sie ein Problem beim Erinnern beziehungsweise Erkennen von Gesichtern haben. Ihr Umfeld reagiert verständnislos und wirft ihnen eher Ignoranz, Gefühlskälte oder Unkonzentriertheit vor. Nur selten wird Prosopagnosie tatsächlich diagnostiziert. Gesichtsblinde Menschen helfen sich mit dem Erkennen von Stimmen, Gesten oder typischen Bewegungen, die sie den Personen zuordnen, um ihre Schwäche zu kompensieren. Meist wissen sie selbst nichts von ihrer neurologischen Erkrankung und werden – wenn überhaupt – erst spät oder zufällig mit der Diagnose konfrontiert. Für die meisten Menschen mit Prosopagnosie ist es jedoch eine Erleichterung zu erfahren, warum sie scheinbar anders sind. Sie können lernen, verstärkt auf andere Signale verstärkt zu achten oder schlicht ihr Umfeld informieren, dass sie Schwierigkeiten bei der Gesichtserkennung haben, und auf die Unterstützung der anderen bauen.

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