Tierische Geduld

Eine graue Katze mit weißen Ohren und weißen Tatzen residierte schon seit vielen Jahren in einem recht stattlichen Revier. Sie bewohnte gemeinsam mit drei Menschen ein Haus am Rande der Stadt. Die Katze, die auf den albernen Namen Gretchen getauft worden war, lebte in steter Zwietracht mit dem dicken Hund auf der anderen Seite des Zaunes, einer Maus am Gartenhäuschen, dem frechen Marder, der ihr Angst machte und dem unverschämten, wenngleich attraktiven Kater am Ende der Straße. Eines Morgens kündigte ein lautes Brummen, welches nur ein großes Auto zu erzeugen im Stande war, eine Veränderung im Leben der Tiere an. Ein Laster bog in die Straße ein, hielt vor dem Nachbarhaus, er prustete noch ein paar Mal stinkend aus dem Auspuff und dann erstarb der penetrante Lärm. Zwei große Männer kletterten vorne aus dem Auto, reckten sich wie nach einer langen Fahrt und öffneten letztlich die Ladeklappe.

Neugierig, wie es Gretchens Naturell nun einmal entsprach, sprang die graue Katze auf das Fenstersims, von dem sie alles genau überblicken konnte. Sie reckte ihren Hals und machte sich so lang sie konnte, um nur ja nichts zu verpassen. Vornehme Zurückhaltung gehörte nicht zu ihren Tugenden. Die anderen tierischen Bewohner schlugen sich jedoch auch nicht damit herum, wie ein Blick in die Runde bewies. Alle ihre Freund-Feinde hatten sich auf ihre Beobachtungsposten begeben. Als die Männer begannen Möbel, Kisten, Kartons und allerlei Zeug, das wirklich nur Menschen als notwendig erachten konnten, aus dem Inneren des Wagens in das schöne alte Haus nebenan zu tragen, war es Gretchen klar: Sie bekamen neue Nachbarn.

Es war schon einige Zeit vergangen, die die graue Katze zu einem Schläfchen sinnvoll genutzt hatte, als ein weiteres Auto, allerdings kleiner, am Straßenrand parkte. Gretchen blinzelte. Sie kannte es nicht. Auch das Geräusch war ihr fremd. Sie beobachtete, wie eine Frau, ein Mann und zwei Mädchen aus dem Wagen stiegen. Das größere der beiden Mädchen trug einen großen Weidenkorb. Es war ein Katzenreisekorb! Augenblicklich saß Gretchen kerzengerade mit weit aufgerissenen Augen. Die Ohren gespitzt und die Schnurrbarthaare gereckt. Selbst durch die geschlossene Fensterscheibe hörte Gretchen den blöden Köter, der sie wohl beobachtet hatte, hämisch lachen. Gretchen entspannte äußerlich ein wenig und putzte ihre Vorderpfote ausgiebig, um ihrer arroganten Lässigkeit Ausdruck zu verleihen. Allerdings war diese nur gespielt.

Sie platzte vor Neugierde und Anspannung. Eine Katze bedeutete nämlich Konkurrenz. Ein Kater würde versuchen, das Territorium zu erobern, und falls es ein Katzenkind sein sollte, so ginge ihr der kleine Quälgeist jetzt schon auf die Nerven. Warum konnten die neuen Nachbarn nicht ein Aquarium mitbringen? Daran hätte sie sicherlich ihre Freude gehabt, dachte Gretchen boshaft. Der Tag verging und die Nacht brach herein. Das quirlige Treiben rund um das Nachbarhaus war einer erfreulichen Ruhe gewichen.

Gretchen hatte ein ausgiebiges Nickerchen auf der Fensterbank gehalten und trat nun durch ihre Katzentüre den Weg durch den Garten auf das Grundstück der neuen Nachbarn an. Sie versteckte sich im Schatten eines Busches. Am Fenster des alten Hauses saß eine Tigerkatze, die verunsichert, neugierig und ein wenig traurig in die Dunkelheit blickte. Sie konnte offensichtlich nicht heraus, denn es gab keine Katzenklappe an diesem Haus. Das Fenster war fest geschlossen, so wie alle anderen Fenster es auch waren. Gretchen wusste, wie sehr sie selbst kleinste Veränderungen aller Art hasste. Wie schlimm musste es für diese Katze in einer völlig fremden Umgebung sein?

Eingesperrt und alleine. Schrecklich! Gretchen quoll über vor Mitleid, als sie die Tigerin so verloren am Fenster sitzen sah. Sie rückte in den Lichtkegel, der aus dem Fenster in den Garten fiel, um für die neue Nachbarin sichtbar zu werden. Sie legte ihren Kopf schief und versuchte der neuen Katzenachbarin Mut zu machen. Diese schaute erst erschrocken, dann skeptisch, doch dann voller Neugier auf die graue Katze auf dem Rasen vor dem Fenster. Und lächelte. Jeden Abend kam Gretchen nun in den Garten der Tigerin, die schon auf sie zu warten schien. Zeit zog ins Land, die Blätter fielen, es wurde grau und regnerisch.

Die anderen Tiere hatten ihre neue Nachbarin schon längst wieder vergessen und gingen ihren eigenen Interessen nach. Eines Tages öffnete sich jedoch die Haustüre und schüchtern trat die Tigerin hinaus ins Freie. Der Hund von Gegenüber bellte Alarm. Gretchen schreckte hoch, rannte zum Fenster, sah die Streifenkatze und raste zur Katzenklappe. Mit einem Satz war sie im Garten und sauste zur Vorderseite der Häuser. Dort wartete die Tigerin und lächelte Gretchen an. „Man nennt mich Luna.“

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