Die ersten Sonnenstrahlen stahlen sich durch die Ritzen der Jalousien und zerbrachen die Dunkelheit. Verstohlen zog sie sich in die Ecken, Winkel und Falten zurück und verschwand schüchtern hinter den Dingen im Raum, vor der Helligkeit verborgen als Schatten. Nelly hörte ihre Mutter in der Küche das Frühstück richten. Die 14jährige zog die Decke über den Kopf und versuchte in die Nacht zurückzukehren – was ihr nicht gelang.
Heute war der Tag, an dem sie als Neue in eine Schule gehen würde. Nicht das erste Mal, dass sie die Schule wechseln musste. Ihr Vater wurde als anerkannter Spezialist einer großen Firma mal hier und mal dorthin versetzt. Diese Engagements dauerten immer zwei bis drei Jahre, sodass die Familie ihm folgte. Nelly mochte dieses Leben nicht. Immer dann, wenn sie sich wirklich wohl fühlte, verließ sie ihre Freunde, ihre Umgebung, um woanders wieder die Neue zu sein. Sie wusste genau, wie der Tag heute ablaufen würde. Irgendein Lehrer würde sie in die Klasse führen, sie vorstellen, einen Platz für sie aussuchen, da, wo gerade frei war und sie würde die neugierigen und auch abschätzenden Blicke der anderen Schüler über sich ergehen lassen. In der Pause würden sicherlich ein paar Mädchen auf sie zukommen und sie ausfragen. Sie, Nelly, würde natürlich höflich, aufgeschlossen, lächelnd jedem Auskunft geben, über seltsame Witze lachen, bei jedem Lehrerwechsel dasselbe sagen und eine Wissensstandermittlung bestehen müssen. Dann müsste sie sicherlich für dies und das noch einmal ins Sekretariat. Sie hätte nicht alle Bücher, nicht die richtigen Hefte und dann würde sicherlich eine blöde Erdkundelehrerin sie zu ihrer Heimat und den dortigen Bodenschätzen befragen. Nelly wusste es ganz genau. Der heutige Tag würde noch ganz passabel sein. Viel schlimmer würden die nächsten Tage werden, wenn das Interesse der Schüler und Lehrer nachgelassen hatte und Nelly die Pausen alleine verbrachte, im Schulhaus herumirrte und in die Stolperfallen der Lehrer und Schüler tappte. Das war öde. Und nicht nur die Pausen, sondern auch die Nachmittage würden einsam werden. Sie hatte gelernt, sich sehr schnell in Sportvereine anzumelden, um wenigstens dort in der ersten Zeit Abwechslung zu bekommen. Die viele Freizeit, die daher kam, dass ihr Netzwerk aus Freunden immer ziemlich dünn war, hatte dazu geführt, dass sie sich intensiv mit der Schule beschäftigen konnte. Das war gut, um die vielen Schulwechsel besser überstehen zu können. Außerdem hatte sie gelernt, dass es am besten war, sich die Wortführer der Klasse auszusuchen und sich mit diesen anzulegen. Entweder man gewann, dann war man bei den Starken und Angesagten, oder man verlor. Wenn man verlor, kam es darauf an, wie man eingesteckt hatte. Brachte es Respekt ein? Oder war man einfach nur ein Verlierer? Niemals sollte man als Neue sofort die Schwachen aufsuchen. Das war allerdings verführerisch und leicht, weil diese Gruppe immer Kontakt suchte. Dieses Image klebte jedoch schnell auf dem eigenen Rücken und war nur schwer zu entfernen. Es war immer gleich, immer ermüdend – und sie hatte wie immer Angst.
Seufzend schlug Nelly die Bettdecke zurück und stand auf. Sie hatte sich gestern über ihr Outfit Gedanken gemacht und von ihrer Mutter eine neue Jacke für den Schulstart bekommen. Sie zog Jeans, Pulli (der passte super zu der neuen Jacke), die Stiefel mit dem Absatz an und würde sich ein wenig schminken. Mit Kriegsbemalung in die Schlacht. Es würde schon gut gehen.
Na, dann...