Wenn Essen zur Religion wird

Welche Formen von Esstörungen gibt es?

Wenn das Essen den Tag bestimmt und zum Zwang wird, so ist die Gefahr einer Essstörung gegeben. Essstörungen sind in unterschiedlichen Ausprägungen bekannt. Es gibt diejenigen, die nicht aufhören können zu essen, und jene, die sich dem Essen grundsätzlich verweigern. Dem gegenüber stehen Menschen, bei denen sich Heißhungerattacken mit Phasen der Essensablehnung abwechseln. Eine relativ neue Gruppe gesellt sich in den bedenklichen Kreis: Menschen, die sich über das Normalmaß hinaus gesund ernähren wollen. Sie lehnen viele Lebensmittel ab. Milch ist tabu, Zucker sowieso, Weizenprodukte werden verschmäht, selbst Obst und Gemüse aus dem konventionellen Anbau kommen nicht mehr auf dem Tisch. Gegessen werden nur noch wenige ausgewählte Lebensmittel, im Extremfall vielleicht nur im eigenen Garten Angebautes. Seltsame Vorstellungen davon, was Lebensmittel im Körper anstellen, machen ihnen Angst.

Wann wird die Vorsicht zum Zwang?

Eine Mischung aus Gesundheitsbestrebungen und Schlankheitswahn, befördert durch die zahlreichen Lebensmittelskandale, führen bei diesen Menschen zu der zwanghaften Auseinandersetzung mit der Ernährung. Die Deutsche Gesellschaft für Endokrinologie warnt vor der so genannten Orthorexie, bei der Menschen vom gesunden Essen besessen seien. Nicht wie bei der Ess- und Brechsucht, Magersucht und Fresssucht drehen sich die Gedanken um die Menge des Essens, sondern um die Qualität. Ein Veganer, der aus ethisch-moralischen Gründen auf den Konsum von tierischen Lebensmitteln verzichtet, ist weniger gefährdet als derjenige, der einen Tag lang über Proteingehalt, Fettanteile und Fettqualität nachdenkt und Kohlenhydrate grundsätzlich als inakzeptabel einstuft. Nicht selten kommt es bei Betroffenen zu Mangelerscheinungen und übermäßigem Gewichtsverlust.

Welche Auswirkungen hat Orthorexie?

Wer unter Orthorexie leidet, ist krankhaft fixiert auf gesundes Essen. Ungesunde Nahrungsmittel, oder solche, die auch nur ungesund sein könnten, werden nach Möglichkeit komplett vermieden. Das kann in verschiedener Hinsicht extrem negative Auswirkungen haben. Zum einen leidet die Arbeit oder das Sozialleben, weil die Ernährung im Denken eine zu große Rolle spielt und andere Dinge dadurch verdrängt werden. Nährwertangaben werden beäugt, der Vitamingehalt geprüft oder Zusatzstoffe stundenlang studiert. Dabei steht die Suche nach immer gesünderen Lebensmitteln im Vordergrund. Betroffene neigen zu missionarischen Botschaften, die auf Dauer von ihrer Umwelt als nervig empfunden werden. Sie lehnen Einladungen zum Essen ab, meiden Restaurants und Kantinen, da sie befürchten, dass die Qualität der Lebensmittel nicht ihren Ansprüchen genügt. Soziale Kontakte brechen ab. Es kommt häufig zu einer selbstgewählten Ausgrenzung, die in Depressionen enden kann.

Orthorexie (griechisch: orthós „der richtige“ und órexi „Appetit“) wurde erstmals 1997 von dem US-Mediziner Steven Bratman beschrieben. Er lehnt den Namen dabei an die bereits lange bekannte Essstörung Anorexie an, also das fehlende Verlangen nach Nahrung. In einigen Untersuchungen fand man heraus, dass es vielen an Orthorexie leidenden Personen um Kontrolle in einer zunehmend komplexen Gesellschaft geht. Wenn sie sich an ihre eigenen Vorgaben halten können, steigt ihr Selbstwertgefühl und ihre Sicherheit. Sie leiden jedoch unter Schuldgefühlen und Ängsten, wenn sie den Eindruck haben, etwas zu sich genommen zu haben, das ihren hohen Ansprüchen nicht genügt. Weil gesunde Ernährung an sich nichts Schlechtes ist, empfinden sich die Betroffenen auch nicht als krank. Bis zur Therapiebereitschaft ist es oft ein langer Weg.